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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ein
Elefant auf den Fuß getreten, während dein Vater Zigaretten gekauft hat?« fragte
Farrokh den Jungen. Und da er das Ganze für ein ausgemachtes Lügenmärchen hielt,
fügte er hinzu: »Dann heißt du wahrscheinlich Ganesh – nach dem Elefantengott.«
Offenbar ohne den Sarkasmus des Doktors zu bemerken, nickte der Junge.
    »Das war der falsche
Name für mich«, antwortete er.
    Anscheinend glaubte
Vinod dem Jungen. »Er ist Arzt«, sagte der Zwerg und deutete auf Farrokh. »Vielleicht
repariert er deinen Fuß«, fügte er zu dem Bettlerjungen gewandt hinzu. Aber der
humpelte bereits davon.
    [241]  »Was Elefanten
anrichten, kann man nicht reparieren«, sagte Ganesh. Der Doktor war überzeugt, daß
er damit recht hatte.
    »Maaf
karo«, wiederholte
Dr. Daruwalla. Ohne sich auch nur umzusehen oder sonstwie auf Farrokhs Lieblingsausdruck
zu reagieren, humpelte der Junge weiter.
    Dann fuhr der Zwerg
Dr. Daruwalla in die Klinik, wo zwei Operationen – ein Klumpfuß und ein Schiefhals
– anstanden. Farrokh versuchte sich abzulenken, indem er mit offenen Augen von einer
wiederherstellenden Operation träumte – einer Laminektomie mit einer Versteifung
der Wirbel. Dann träumte er von einer noch ehrgeizigeren Operation – der Einsetzung
von Harrington-Stäben bei einer schweren Wirbelkörperentzündung mit Kollaps derselben.
Doch selbst während er sich auf die Klumpfuß- und die Schiefhalsoperation vorbereitete,
dachte er die ganze Zeit darüber nach, wie er den Fuß des Bettlerjungen in Ordnung
bringen könnte.
    Farrokh könnte das
Bindegewebe und die kontrahierten, verkürzten Sehnen durchschneiden – es gab plastische
Verfahren zur Verlängerung von Sehnen –, aber das Problem bei solchen Quetschverletzungen
bestand darin, die Knochenteile wieder zusammenzufügen; denn Dr. Daruwalla würde
den Knochen durchsägen müssen. Wenn er die Gefäßsysteme in der Umgebung des Fußes
verletzte, gefährdete er damit womöglich die Blutversorgung; die Folge davon konnte
eine Gangrän sein. Natürlich gab es immer noch die Möglichkeit, den Fuß zu amputieren
und eine Prothese anzupassen, aber wahrscheinlich würde der Junge einen solchen
Eingriff ablehnen. Farrokh wußte genau, daß sein Vater sich geweigert hätte, eine
solche Operation durchzuführen; als Chirurg hatte sich Lowji getreu an das alte
Motto primum
non nocere gehalten
– vor allem füge keinen Schaden zu.
    Vergiß den Jungen,
hatte Farrokh gedacht. Er hatte den Klumpfuß und den Schiefhals operiert und war
danach vor den [242]  Mitgliederausschuß des Duckworth Club getreten. Anschließend hatte
er sich dort mit Inspector Dhar zu einem Lunch getroffen, der erheblich von Mr.
Lals Tod und dem Unbehagen, das Kommissar Patel ihnen beiden verursacht hatte, überschattet
wurde.
    Dr. Daruwalla hatte
einen arbeitsreichen Tag hinter sich. Während er jetzt die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter
abhörte, versuchte er sich vorzustellen, in welchem Augenblick Mr. Lal bei den Bougainvilleen
am neunten Green erschlagen worden war. Vielleicht während er operiert hatte; möglicherweise
schon früher, als er Dr. Aziz im Aufzug begegnet war, oder bei einem der wiederholten »maaf
karo« , die er
zu dem verkrüppelten Bettlerjungen gesagt hatte, der erstaunlich gut englisch sprach.
    Zweifellos gehörte
der Junge zu jenen Bettlern mit einem gewissen Unternehmungsgeist, die sich ausländischen
Touristen als Fremdenführer andienten. Farrokh wußte, daß Krüppel die geschicktesten
Schwindler waren. Viele von ihnen hatten sich selbst verstümmelt; einige waren von
ihren Eltern vorsätzlich so zugerichtet worden – denn ein Krüppel hatte als Bettler
bessere Chancen. Dieses Nachdenken über Verstümmelungen, vor allem über selbst zugefügte
Verletzungen, brachte den Doktor wieder zu den hijras . Von dort kehrten seine Gedanken
zu dem Mord auf dem Golfplatz zurück.
    Rückblickend verwunderte
es Dr. Daruwalla, wie jemand Mr. Lal nahe genug gekommen sein konnte, um den alten
Golfspieler mit seinem eigenen Putter zu erschlagen. Denn wie konnte man sich an
einen Mann heranschleichen, der wild auf blühende Büsche eindrosch? Er hatte sich
sicher ständig hin und her gedreht und nach vorn gebeugt, um des blöden Balls Herr
zu werden. Und wo hatte sich seine Schlägertasche befunden? Nicht weit weg. Wie
konnte sich irgend jemand Mr. Lals Schlägertasche nähern, den Putter herausholen
und Mr. Lal damit [243]  erschlagen – und das alles, ohne von ihm gesehen zu

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