Zirkuskind
war –, wurde seine Anwesenheit von den Hunden
im ersten Stock entdeckt. In den Wohnungen im ersten Stock hausten unverhältnismäßig
viele Hunde. Und obwohl der Doktor nicht geneigt war, Vinods Deutung zu glauben
– nämlich daß Hunde Zwerge grundsätzlich nicht ausstehen können –, vermochte er
keinen wissenschaftlich nachweisbaren Grund anzugeben, warum sämtliche Hunde im
ersten Stock plötzlich aufwachten und wie verrückt zu bellen begannen, sobald Vinod
auf den verbotenen Aufzug wartete.
Also war es notwendig,
wenn auch lästig, daß Vinod einen genauen Zeitpunkt vereinbarte, zu dem er Farrokh
oder John D. abholte, so daß er am Straßenrand – oder in einer Seitenstraße – im
Ambassador warten konnte und die Halle des Apartmenthauses gar nicht zu betreten
brauchte. Außerdem wurde das empfindliche atmosphärische Gleichgewicht des Hauses
auf eine harte Probe gestellt, wenn Vinod spätnachts die wütende Aufmerksamkeit
der Hunde aus dem ersten Stock auf sich zog. Und Farrokh hatte bereits Ärger mit
der Hausbewohnergemeinschaft – daß er über die Liftfrage anders dachte als sie,
kränkte die anderen Hausbewohner.
[234] Da der Doktor
der Sohn eines anerkanntermaßen großen – und durch seine Ermordung noch berühmter
gewordenen – Mannes war, gab es noch andere triftige Gründe, Dr. Daruwalla nicht
zu mögen. Die Tatsache, daß er im Ausland lebte und es sich trotzdem leisten konnte,
seine Wohnung nur von den Dienstboten bewohnen zu lassen – oft jahrelang, ohne daß
er ein einziges Mal zu Besuch kam –, hatte ihm sicher Antipathien, wenn nicht gar
unverblümte Verachtung eingetragen. Daß die Hunde anscheinend dazu neigten, Zwerge
zu diskriminieren, war nicht der einzige Grund, warum Dr. Daruwalla sie nicht mochte.
Ihr verrücktes Bellen irritierte ihn, weil es so völlig irrational war; und alles
Irrationale erinnerte Farrokh an all das, was er an Indien nicht begreifen konnte.
Erst heute morgen
hatte er auf seinem Balkon gestanden und mitbekommen, wie ein Mitbewohner aus dem
fünften Stock, Dr. Malik Abdul Aziz – ein »vorbildlicher Diener des Allmächtigen« –, auf dem Balkon unter ihm seine Gebete verrichtet hatte. Wenn Dhar auf dem Balkon
geschlafen hatte, äußerte er Farrokh gegenüber häufig, wie wohltuend es doch sei
aufzuwachen, während Dr. Aziz betete.
»Gelobt sei Allah,
der Herr der Schöpfung« – soviel hatte Dr. Daruwalla verstanden. Und später ging
es irgendwie um »den geraden Weg«. Es war ein sehr schlichtes Gebet – es hatte Farrokh
gefallen, und er bewunderte Dr. Aziz seit langem wegen seines unerschütterlichen
Glaubens –, aber Dr. Daruwallas Gedanken hatten sich abrupt von der Religion ab-
und zur Politik hingewandt, weil er sich an die penetranten Reklametafeln erinnert
fühlte, die er überall in der Stadt gesehen hatte und die eine im Grunde feindselige
Botschaft verkündeten, die nur vorgab, religiös zu sein.
DER ISLAM IST DER EINZIGE WEG
ZUR MENSCHLICHKEIT FÜR ALLE
[235] Dabei
war sie noch nicht so schlimm wie diese Shiv-Sena-Slogans, die man überall in Bombay
lesen konnte. ( MAHARASHTRA DEN MARATHEN . Oder: BEKENNE STOLZ: ICH BIN EIN HINDU. )
Etwas Böses hatte
die Reinheit des Gebets unterwandert. Etwas so Würdevolles und Persönliches wie
Dr. Aziz mit seinem auf dem Balkon ausgerollten Gebetsteppich war durch missionarischen
Eifer verdorben, durch politische Ambitionen entstellt worden. Und hätte sich dieser
Wahnsinn akustisch geäußert, dann nach Farrokhs Dafürhalten im irrationalen Bellen
dieser Hunde.
Inoperabel
Im ganzen
Apartmenthaus waren Dr. Daruwalla und Dr. Aziz die konsequentesten Frühaufsteher;
beide waren Chirurgen – Dr. Aziz allerdings Urologe. Wenn er jeden Morgen betet,
sollte ich das auch tun, dachte Farrokh. Höflich hatte er an jenem Morgen gewartet,
bis der Muslim seine Gebete beendet hatte. Darauf folgte das schlurfende Geräusch
seiner Pantoffeln, als er den Gebetsteppich zusammenrollte, während Dr. Daruwalla
sein Kleines
Gebetbüchlein durchblätterte;
er suchte darin etwas Passendes oder zumindest Vertrautes. Er schämte sich, daß
seine Begeisterung für das Christentum anscheinend der Vergangenheit angehörte.
Oder hatte sich sein Glaube ganz und gar verflüchtigt? Schließlich war es nur ein
unbedeutendes Wunder gewesen, das ihn zum Übertritt bewogen hatte; vielleicht benötigte
er jetzt ein zweites kleines Wunder, das ihm neuen Auftrieb gab. Da wurde ihm klar,
daß die meisten
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