Zirkusluft
Betastrahlen ausgesetzt, sind nur die äußeren Hautschichten betroffen. Je nach Intensität kann es zu intensiven Verbrennungen kommen, eine denkbare Spätfolge wäre Hautkrebs, dazu braucht es allerdings schon eine größere Dosis. Das Gute an Betastrahlung ist, dass sie nicht lange genug in der Luft bleiben kann, um das ganz große Unheil anzurichten. Schlimm sicher, aber bei Weitem nicht so schlimm wie etwa Gammastrahlung, deren Energie den menschlichen Körper durchdringen kann. Ganz anders sieht es aus, wenn Betastrahlung inkorporiert, also vom Körper aufgenommen wird, beispielsweise durch Einatmen oder Verschlucken. Dann ist das Zeug ganz, ganz böse.«
»Das heißt?«
»Je nach Kontaminationsgrad Tod in Minuten, Stunden, Tagen, Monaten oder Jahren, und immer ein elendes Verrecken.«
Es war nun fast komplett dunkel geworden in der Karlsaue. Zwischen den spärlich leuchtenden Laternen bildeten sich weite, nahezu stockdunkle Flecken. Lenz fröstelte noch immer.
»Wenn ich mir das vorstelle, wird mir noch kälter. Aber glauben Sie tatsächlich, diese Frau aus dem ICE hat was mit dem Strontium aus den Leuchttürmen zu tun?«
»Ob und was für eine Rolle sie dabei spielt, kann ich nicht sagen. Was ich Ihnen aber sagen kann, ist, dass ein gewisser Juri Kirow, ein Ukrainer, einer der Drahtzieher in diesem Geschäft ist.«
Nun blieb Lenz stehen.
»Die Kette! Tatjana und Juri…«
»Tatjana und Juri«, wiederholte Jelinski .
Von vorne hörte Lenz das Knirschen von Kies, dann tauchte ein dick eingepackter Jogger mit Stirnlampe und Handschuhen auf. Als er den Kopf kurz senkte, erkannte Lenz das verschwitzte Gesicht von Thilo Hain. Sein Kollege murmelte ein kaum hörbares ’n Abend und war auch schon wieder in der Dunkelheit verschwunden. Der Hauptkommissar drehte sich um und wollte ihm etwas hinterherrufen , ließ es dann aber sein. Allerdings brauchte er einen Moment, bis er wieder voll konzentriert war.
»Und Sie glauben, dass dieser Juri seine Tatjana instruiert hat, einen Teil des Strontiums hier in Deutschland zu verkaufen?«
Nun zögerte Jelinski .
»Was ich Ihnen jetzt sage, unterliegt der absoluten Geheimhaltung, Herr Lenz. Ich muss mich darauf verlassen können, dass nichts davon an die Öffentlichkeit dringt.«
»Na, Sie machen’s aber spannend, Herr Jelinski .«
»Es ist auch spannend, vielleicht deshalb. Und weil es mich meinen Job kosten könnte.« Er überlegte ein paar Sekunden. »Ach was, meinen Job wäre ich schon los, wenn mein Vorgesetzter wüsste, dass ich mit Ihnen hier über eine Schmutzige Bombe spreche.«
Sie überquerten die kleine Brücke über den Hirschgraben und bogen danach links ab, Richtung Orangerie.
»Es gibt da einen Spezialisten, so nennen sich solche Leute meistens selbst. Der Mann ist Franzose, hat lange Zeit in einer Spezialeinheit der französischen Streitkräfte gedient und ist perfekt ausgebildet. Dieser Mann, nennen wir ihn mal ›Das Chamäleon‹, ist seit ein paar Jahren als freiberuflicher Killer auf der ganzen Welt unterwegs. Er hat schon für die meisten der westlichen Geheimdienste gearbeitet und gilt als fehlerfrei. Mancher, der mit ihm zu tun hatte, hält ihn auch deswegen für den besten seiner überschaubaren Zunft, weil er es versteht, sich immer und überall anzupassen. Er ist ein Meister der Verkleidung und des Mimikry. Genau wie dieser Mann, der hier in Kassel zwei Menschen erschossen hat.«
Vielleicht auch drei, dachte Lenz.
»Ende letzten Jahres ist er urplötzlich von der Bildfläche verschwunden. Zuerst wurde gemunkelt, er sei bei einem Auftrag in Afrika getötet worden, dann hieß es, er arbeite im Auftrag der Engländer an der Ermordung von Robert Mugabe. Alles Quatsch. Der Mann ist untergetaucht, weil er einen Anschlag plant, und nach meiner Meinung einen Anschlag mit einer Schmutzigen Bombe. Ich habe seit gestern Informationen, die leider unbestätigt sind, dass Juri Kirow einen Unterhändler zu einem Treffen nach Kassel entsandt hat. Vielleicht war es ja diese Tatjana?«
»Sie wollen mir also erzählen, dass dieser vermutete, unbestätigte Anschlag hier in Kassel stattfinden soll?«
»Bis gestern hatte ich keine Ahnung, wo. Und sehr viel weiter bin ich jetzt auch nicht, aber ja, die Hinweise verdichten sich.«
»Haben Sie nicht vorhin gesagt, dass man mit diesem Strontium 90 in freier Luft gar keinen großen Schaden anrichten kann? Was also sollte er in dieser Stadt planen?«
»Das habe ich mir auf der Fahrt hierher auch
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