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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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nicht ganz vertrieb. Sie setzte sich in Bewegung, zuerst ging, dann lief sie, von einer engen Gasse bog sie in eine noch engere. Wenig später rannte sie, als ginge es um ihr Leben. Über ihr und um sie herum zischten und schimpften die Häuser, unter ihren Füßen buckelte sich das Kopfsteinpflaster und wollte sie zum Fallen bringen. Sie rannte, bis sie in einer Sackgasse stand und nicht mehr weiterkam. Dann hörte sie hinter sich Schritte. Keine hastigen Schritte, jemand kam ganz langsam auf sie zu, weil er wusste, dass sie ihm nicht entkommen konnte.
    Sie war sich auf einmal ganz sicher, dass es ihr Vater war, der sich da näherte. Das war natürlich der blanke Unsinn. Du bist betrunken, Maria, versuchte sie sich zu beruhigen. Ihr Vater war in Vellberg, viele Kilometer von hier, er war in seinem ganzen Leben nie aus Vellberg herausgekommen. Die hohen Häuser warfen das Echo der Schritte hin und her. Laut, lauter. Am lautesten klopfte ihr Herz. Es war ihr Vater, gewiss war es ihr Vater. Er hatte sie all die Jahre gesucht, und nun hatte er sie gefunden, und die Bestrafung würde fürchterlich werden. Wie hatte sie nur jemals annehmen können, dass sie ihm entkommen würde?
    Als sie seine hohe, dunkle Gestalt um die Ecke biegen sah, den dunklen Hut, den langen Mantel, sackte sie in sich zusammen. Sie zog den Kopf ein, schlug die Hände vors Gesicht und wartete auf die Schläge. Er blieb aber stehen und betrachtete sie, voller Abscheu oder voller Lust an ihrer Angst, sie wusste es nicht.
    »Um Gottes willen«, sagte er. »Was denken Sie von mir! Das Ganze ist ein furchtbares Missverständnis. So beruhigen Sie sich doch, bitte.«
    Sie hob den Kopf wieder. Es war Quirin Sommer, sein Gesicht leuchtete blass im Licht der Straßenlaternen. Er machte einen vorsichtigen Schritt in ihre Richtung, als wäre sie ein verwundetes Tier, das er einfangen müsste.
    Sie stand viel zu schnell auf. Plötzlich fühlte sie sich so schwindlig, dass sie sich an der Hauswand festhalten musste, um nicht umzufallen. Sie atmete tief ein und aus, strich ihr Sommerkleid glatt, dann zog sie den Mantel an. Der eine Ärmel war halb abgerissen. »Zum Teufel damit!«, murmelte sie.
    »Es tut mir leid«, sagte er betreten, während er einige Schritte vor ihr stehen blieb. Dabei war es gar nicht seine Schuld.
    Die Häuser um sie herum schwebten, auf und ab und hin und her. Sie war in irgendeiner Sackgasse, irgendwo in Tübingen, sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie wieder zurück zum Zirkus finden sollte. Sie war müde.
    Quirin trat von einem Fuß auf den anderen.
    »Was ist nun?«, fragte sie. »Sie wollten mich doch nach Hause bringen. Begleiten Sie mich jetzt, oder was?«
     
    Sie gingen schweigend stadtauswärts. Über ihnen schien der Mond, und um sie herum wurden die Gassen immer breiter, die Häuser nahmen Abstand voneinander. Mit jedem Stück wurde sie wieder nüchterner.
    »Es war kein guter Anfang«, sagte er unglücklich, als sie endlich die große Wiese erreicht hatten, auf der der Zirkus lagerte. »Geben Sie mir eine Gelegenheit, das Ganze wiedergutzumachen?«
    Sie musste lachen, weil er so demütig und förmlich klang. »Wir werden sehen«, sagte sie unverbindlich, während sie ihm die Hand reichte.
    »Das ist gut«, sagte er erleichtert. Sie war sich nicht sicher, was er damit meinte, aber sie fragte auch nicht nach. Es war ohnehin egal, in ein paar Tagen wäre sie wieder unterwegs, und im Grunde hatte sie ihn jetzt schon vergessen.
     
    Am nächsten Tag kam er nach der Nachmittagsvorstellung ins Wahrsagerzelt. Mirko brachte ihn herein und steckte ihr seinen kleinen Zettel zu. Als er das Zelt verlassen hatte, stand sie sofort auf. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich Ihnen nicht prophezeien werde.«
    Quirin erhob sich ebenfalls wieder. »Ich wollte mich nur noch einmal bei Ihnen entschuldigen.«
    »Angenommen«, meinte sie. »Auf Wiedersehen.«
    »Und fragen, ob Sie mich noch einmal treffen würden. Vielleicht heute Abend?«
    Sie musste an ihren Auftritt in dem kleinen Weinlokal denken, wie sie plötzlich hinausgestürmt war, an ihre dumme Angst in der Sackgasse. Wie betrunken sie gewesen war. »Meinetwegen«, sagte sie widerwillig. »Kommen Sie also um neun Uhr.«
    Als er gegangen war, las sie den Zettel, den Mirko geschrieben hatte.
Kühl , unnahbar , beobachtet . Hat Angst, sich schmutzig zu machen. Glaubt m. E . nicht an Wahrsagerei.
    Es war noch hell, als er sie abholte. Sie hatte Mirabella zu Mirko gebracht, weil

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