Zitronen im Mondschein
fortholt, dann will ich den Schal tragen und alles tun, was sie von mir verlangt. Ich will ein gutes Christenkind sein und jeden Sonntag in die Messe gehen, auch allein und ohne die anderen. Bitte, lieber Gott.
Der liebe Gott fühlte sich aber offenbar genauso wenig für sie zuständig wie die Muttergottes. Ihre Mutter kam nicht, und Mirko kam auch nicht, obwohl man sich doch sonst immer auf ihn verlassen konnte. Wenn Mirabella zum Beispiel noch im Dunkeln draußen spielte, weil ihre Mutter ganz vergessenhatte, sie ins Bett zu schicken, dann erschien Mirko und holte sie. Manchmal wusch er sogar ihre Strümpfe und stopfte sie, obwohl das nun wirklich keine Tätigkeit für ein Mannsbild war, wie Domenica missbilligend meinte.
Es war nicht so, dass man Mirabella im Waisenhaus schlecht behandelte. Die Schwestern waren gütig und freundlich, jedenfalls meistens. Es war nur so schwer, ihren Vorstellungen gerecht zu werden. »Wenn du hier bei uns bleiben willst, dann musst du dich auch unseren Regeln fügen«, hatte die Mutter Oberin Mirabella am ersten Tag erklärt. »Versprichst du mir das?«
Mirabella hatte genickt und dabei versucht, der Mutter Oberin in die Augen zu blicken, aber das ging nicht, weil die Oberin eine dicke Brille trug, hinter deren Gläsern ihre Pupillen verschwammen wie Fische in einem Teich. Dabei hatte sie sich gefragt, ob die Oberin wirklich nicht wusste, dass Mirabella keineswegs aus freien Stücken ins Kloster gekommen war, sondern nur gezwungenermaßen.
Es war auch ganz gleichgültig, sie war ja durchaus bereit, sich den Regeln im Waisenhaus zu fügen, allein schon deshalb, weil das Leben unendlich kompliziert wurde, wenn man sich ihnen widersetzte. Aber es gelang ihr einfach nicht.
Es waren zu viele Regeln, sie konnte sie beim besten Willen nicht behalten.
Man musste die Strümpfe und den Rock anziehen, bevor man sein Nachthemd auszog. Nach dem Ankleiden wurde das Nachthemd zusammengefaltet, die Ärmel auf den Rücken, dann wurden die Seiten eingeklappt und zum Schluss der Saum nach oben, einmal, zweimal, fertig. Das Kopfkissen wurde aufgeschüttelt, die graue Wolldecke und das Laken wurden zurückgeschlagen, aber nur zu einem Drittel. Das Nachthemd gehörte aufs Kopfkissen. Beim Frühstück durfte man die Ellenbogen nicht auf den Tisch legen, man kaute nicht mit offenem Mund, man redete nicht während der Mahlzeiten. Wenn man aufgegessen hatte, legte man die Hände links und rechts vom Teller auf den Tisch, die Handflächen nach unten.
In die Kirche ging man hübsch hintereinander und drängelte nicht. Beim Hereinkommen bekreuzigte man sich mit Weihwasser und beugte die Knie vor dem Allerheiligsten. Beim Beten senkte man die Augen. Die Gesangbücher legte man nach der Heiligen Messe in ein Regal neben der Tür. Immer fünf Gesangbücher kamen auf einen Stapel.
Das waren nur einige der Regeln, die man bis zum Unterricht zu berücksichtigen hatte, und danach ging es immer so weiter. Wie man aufstand, wie man sich hinsetzte, wie man sprach und wie man schwieg, wie man lachte und wie man weinte – für alles gab es eine Regel im Waisenhaus.
Die anderen Kinder schienen keine Schwierigkeiten damit zu haben. Sie trugen sämtliche Gebote und Verbote in ihrem Innersten, so dass sich ihr Leben automatisch danach ausrichtete, ohne dass sie auch nur einen Gedanken daran verschwenden mussten. Auch die blinden und tauben Krüppelkinder, denen sie in der Kirche und im Speisesaal begegnete, schienen die Vorschriften mühelos zu beherrschen, jedenfalls kam es so gut wie nie vor, dass sie zurechtgewiesen wurden.
Nur Mirabella musste ständig ermahnt werden.
Nach der Messe unterrichtete sie Schwester Clementia in Lesen, Schreiben, Rechnen und biblischer Geschichte. Die Schülerinnen saßen in langen Reihen an Holzbänken, es waren nur Mädchen, denn Waisenknaben wurden in Heiligenbronn nicht aufgenommen. Mirabella kam gleich ganz nach vorn zu den Erstklässlern, obwohl sie schon acht war, älter als alle anderen. Dabei konnte sie bereits lesen und schreiben und rechnete auch ganz passabel. Mirko hatte es ihr ja beigebracht, doch das beeindruckte Schwester Clementia nicht.
»Setz dich nach vorn zu den Kleinen«, sagte sie, bevor Mirabella richtig zu Ende geredet hatte. »Wir werden dann schon sehen, was du kannst. Und wenn du dich bewährst, darfst du aufsteigen.«
Aber Mirabella bewährte sich nicht, im Gegenteil. Wenn es eine Klasse unter den Erstklässlern gegeben hätte, hätte Schwester
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