Zitronen im Mondschein
Clementia sie vermutlich absteigen lassen, als so erbärmlicherwiesen sich ihre Kenntnisse. Als Mirko sie unterrichtet hatte, war alles so einfach gewesen.
A a
sagte der Rabe, der auf der ersten Seite der Fibel auf einem Baum saß. Aa!
M m
machte das Kind am Mittagstisch. Mmm! Und
MAMA
las Mira, schon am zweiten Tag. Eine Nuss und noch eine Nuss machten zwei Nüsse, und wenn man vier dazulegte, hatte man sechs, und nachdem man drei gegessen hatte, waren es nur noch drei. Das war kinderleicht, das konnte man sich ja an zehn Fingern abzählen. Aber bei Schwester Clementia in der Waisenhausschule durfte man die Finger nicht zum Rechnen benutzen, sonst gab es eine Tatze. »Denn man rechnet mit dem Kopf, nicht mit den Händen«, sagte Schwester Clementia.
Hier fügten sich die Buchstaben auch nicht zu Worten zusammen, so sehr sich Mira auch anstrengte und abmühte. Jeder blieb für sich allein, ein A, ein E, ein U, ein P, ein F, ein D, aber zusammen ergab es keinen Sinn. Irgendwann prägte sie sich bestimmte Gruppen ein
und
las sie, weil sie jetzt wusste, dass diese bestimmte Buchstabenkombination
und
bedeutete.
Mirko hatte sie hier und dort und überall unterrichtet, er war mit ihr in die Manege gegangen, wo sie zuerst Pferde und dann Pferdeäpfel gezählt hatten, sie hatten Worte in den Matsch geschrieben und Buchstaben in Baumrinden geritzt. Alles, was er ihr beibrachte, gehörte zusammen – dass die müde Schlange in der Menagerie eine BOA CONSTRICTOR war und dass sie aus Südamerika kam und welche Tiere dort noch im Urwald lebten. Aber hier im Nonnenkloster zerflog ihr ganzes Wissen in kleine, unzusammenhängende, wertlose Bruchstücke.
Fünf und fünf macht zehn! Sechs und sechs macht zwölf! skandierten die Kinder im Chor. Mirabella sprach es ihnen nach und verstand nichts.
Anstatt sich zu bewähren und aufzusteigen, hörte sie auf zu denken. Stundenlang starrte sie Schwester Clementia einfach nur an, das rosa Gesicht, eingefasst von weißem Tuch. Die Kanten der schwarzen Haube pressten sich in ihre Stirn, so dass das Fleisch über den Augenbrauen nach unten geschoben wurde, zu einem Ausdruck der dauerhaften Missbilligung.
Anstatt eins und eins und zwei und sieben zusammenzuzählen, fragte sich Mirabella, was für eine Haarfarbe sich wohl unter Schwester Clementias Haube verbarg und ob ihre Haare lockig oder glatt waren. Grau und glatt, entschied sie irgendwann, aber das war natürlich nur eine Vermutung und würde immer eine Vermutung bleiben, denn auch wenn sie allen Mut zusammennehmen und Schwester Clementia fragen würde, würde sie niemals eine Antwort bekommen.
Anstatt Buchstaben zusammenzufügen, die nicht zusammengehörten, blickte sie aus dem Fenster und sah die Krähen auf den kahlen Obstbäumen sitzen. Mit schief gelegten Köpfen beobachteten sie ihrerseits die Kinder im Klassenzimmer, ganz besonders jedoch Mirabella.
»Zähl uns doch! Zähl uns doch!«, hörte sie sie spotten, obwohl das Fenster fest verschlossen war und kein Laut von draußen nach drinnen drang.
»Mirabella!«, rief Schwester Clementia in strengem Ton.
Mirabella sprang auf und begann zu schwitzen.
»Die Söhne Noahs«, sagte Schwester Clementia, diesmal ging es also nicht ums Rechnen oder Lesen, sondern um biblische Geschichte.
»Die Söhne Noahs«, wiederholte Mirabella hilflos. »Die Söhne Noahs.« Wenn sie es oft genug wiederholte, vervollständigte sich der Satz vielleicht von selbst. Hinter ihr kicherte jemand, für den Bruchteil einer Sekunde schossen Schwester Clementias Augen von Mirabella weg. Das Kichern verstummte. Die Augen hefteten sich wieder auf Mirabella. Ihr wollenes Leibchen klebte an ihrem Oberkörper, es kratzte schlimmer als jeder Wollschal der Welt. Wenn ich ihn nur genommen hätte, dann wäre ich jetzt nicht hier, dachte Mirabella, aber das war dumm und brachte sie auch nicht weiter.
»Setz dich«, sagte Schwester Clementia und kritzelte etwas in das große schwarze Buch, das sie immer mit sich herumtrug und in dem sie alles vermerkte, alles Gute und alles Schlimme. Nur dass es bei Mirabella niemals etwas Gutes zu vermerken gab. »Elisabeth!«
Zwei Reihen hinter Mirabella stand ein kleines Mädchen auf. »Die Söhne Noahs sind diese: Sem, Ham und Jafet. Ham ist der Vater Kanaans.«
Schwester Clementia seufzte erleichtert. »Gott segne dich«, sagte sie leise, vielleicht hatte sie auch
Bitte setze dich
oder
Das ist richtig
gesagt, aber für Mirabella klang es wie
Gott segne
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