Zitronen im Mondschein
dich
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Heiligenbronn. Das Kloster war eine Welt für sich. Wie eine Mauer stand das Hauptgebäude vor der Kirche, daneben der Seitenflügel, in dem die Krüppelkinder wohnten. Die Böden waren aus schweren Holzdielen und knarrten laut, wenn man darüber ging. Alte Eichenbalken stützten die Decke. Am Abend dehnte sich das Holz, das ganze Gebäude ächzte und stöhnte, als beklagte es sich über die vielen Menschen und den Lärm, den es den ganzen Tag ertrug.
Das Kinderheim und die Schule waren im Hauptgebäude untergebracht. Die Nonnen lebten in ihrem eigenen Gebäude, das sich wie ein ausgestreckter Arm daran anschloss. Neben der Kirche war die Gnadenkapelle, in der die Skulptur der Gottesmutter mit dem toten Jesus auf den Knien stand, und darunter fing ein Bassin das Quellwasser auf, das dem Kloster den Namen gegeben hatte. Es war Wunderwasser, das Krankheiten und Gebrechen heilen konnte. Deshalb strömten jeden Sonntag zahllose Wallfahrer ins Kloster. Humpelnd, kriechend, hinkend, gebückt näherten sie sich der Gottesmutter und ihrem Sohn und erflehten ihre Gnade. Eine Nonne schöpfte mit einem Becher Wasser aus dem Becken und gab allen zu trinken, sie schlürften das Wasser so begierig, als wäre es der teuerste Wein, aber so lange Mirabella im Kloster war, erlebte sie niemals, dass einer seine Krücken fortwarf oder die Verbände von seinen Wunden riss und geheilt war. Alle die Elenden und Kranken schleppten sich genauso mühsam wieder fort, wie sie angekommen waren, und auch von den Krüppelkindern im Kloster wurde kein einziges wieder sehend oder konnte plötzlich sprechen.
Draußen herrschte Krieg, drinnen im Kloster herrschten die Mutter Oberin und die anderen Nonnen und Pfarrer Labs, derden älteren Kindern Religionsunterricht gab, freitags die Beichte abnahm und sonntags die Messe las. »Behüte und stärke unsere Männer im Gefecht und errette uns von unseren Feinden«, betete er dann, und die Schwestern bekreuzigten sich andächtig.
Im Schlafsaal waren sie zu acht, im Klassenzimmer waren fünfundvierzig Mädchen, auf dem Pausenhof hüpften und lachten und spielten an die sechzig, weil auch die Blinden und Taubstummen dabei waren. Im Speisesaal kamen sie mit den Nonnen, Kandidatinnen und Angestellten auf über zweihundert Personen.
Man war niemals allein im Kloster. Mirabella war dennoch immer einsam.
Sie hätte sich gerne mit den anderen Kindern angefreundet, aber sie fand keinen Weg. Am Anfang dachte sie, es läge daran, dass sie als Letzte ins Waisenhaus gekommen war. Die anderen kannten sich bereits, sie musste erst ihren Platz in den Reihen finden. Im März 1915 kam jedoch ein neues Mädchen ins Heim – Margareta. Sie war etwas jünger als Mirabella und hatte sehr weiße Zähne und schönes braunes Haar, das auch nach dem Aufstehen glänzte wie frisch gekämmt.
Mirabella beobachtete sie genau. Vielleicht konnten sie und Margareta ja Freundinnen werden, schließlich war auch Margareta allein. Doch dann fügte sich Margareta ohne Umstände und ohne Mühe in die Gemeinschaft der anderen ein. Nach ein, zwei Wochen spielte, lachte, redete sie mit ihnen, als wäre sie schon seit jeher im Kloster gewesen. Sie war eine von ihnen, und Mirabella blieb fremd. Aber warum? Wieso nahmen die anderen Margareta in ihrem Kreis auf und wiesen Mirabella zurück? Was hatte Margareta, was ihr selbst fehlte? Sie fand nie eine Antwort darauf.
Wenn sie nachts in ihrem Bett lag und dem Keuchen, Rascheln und Atmen im Raum lauschte, stellte sie sich vor, dass Margareta doch ihre Freundin wäre. Sie sprangen zusammen Seil auf dem Pausenhof, Mirabella schwang das Seil, und dann hüpften sie beide, erst kehrte ihr Margareta den Rücken zu, hopp und hopp und hopp, und dann drehte sie sich um, währenddas Seil weiterschwang. Hopp und hopp, und in Mirabellas Vorstellung lächelten sie sich dabei an.
Sie würden alles miteinander teilen, ihr spärliches Hab und Gut und ihre Geheimnisse. Und wenn Schwester Clementia Mirabella zurechtwies und die Augen verdrehte, weil sie wieder einmal eine dumme Antwort gegeben hatte, würde Mirabella Margareta ansehen, und Margareta würde ebenfalls die Augen verdrehen, und alles wäre gut.
Mirabella und Margareta – wie schön das zusammenklang.
Es war ein Traum, aber Mirabella beschloss, dass er Wirklichkeit werden sollte.
Nach dem Mittagessen mussten die Mädchen zurück in die Schlafsäle, um zu ruhen. Die Größeren setzten sich dazu an den Tisch, die Kleineren legten sich in
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