Zitronen im Mondschein
Schönheit, Verstand und Glück und Geld, und die anderen hatten nichts und bekamen auch nichts dazu, und warum sie selbst so offensichtlich weniger geliebt wurde als die anderen.
Gott ist tot, dachte Mirabella. Ich bin frei.
»Das ist recht, dass du hier deinen Trost suchst«, sagte die Mutter Oberin, die in die Kapelle trat, als Mirabella hinausging. Seit ihrer Genesung war sie noch magerer als zuvor, ihr Hals war ein dünner, knotiger Strang aus Sehnen und Adern, die dicken Brillengläser viel zu schwer für das zerknitterte Gesicht. »Hast du dich von deiner Freundin verabschiedet?«, fragte sie, und Mirabella nickte.
Ja, sie hatte sich verabschiedet, ein für alle Mal. Von Ursula und von allem anderen auch.
Das geschah am Sonntag, und am Montag kamen Frau Anschütz und ihr Mann nach Heiligenbronn. Es war der 9. November 1918, der Tag, an dem Reichskanzler Prinz Max von Baden die Abdankung des Kaisers bekannt gab und die deutsche Republik ausrufen ließ. Zwei Tage später trat dann der Waffenstillstand in Kraft, da saß Mirabella schon in einem Zugabteil, links neben sich Frau Anschütz, die einen Deckelkorb mit Butterbroten und Kakao auf dem Schoß hatte, ihr gegenüber Herr Anschütz, dessenSchnurrbart leise zitterte, denn das Fenster des Abteils schloss nicht richtig. Draußen rasten die dunkelgrünen Tannen des Schwarzwalds vorbei, als wären sie auf der Flucht.
»Mein gutes Kind«, sagte Frau Anschütz zum wiederholten Mal. »Möchtest du noch ein Leberwurstbrot?«
Mirabella hatte aber bereits zwei Leberwurstbrote gegessen, und jetzt war ihr schlecht.
»Man muss tüchtig essen, wenn man wachsen will«, sagte Herr Anschütz, ohne sie dabei anzusehen. Stattdessen starrte er gebannt aus dem Fenster auf die rasenden Tannen, so als müsste er sie zählen.
»Wir haben uns so lange ein Kind gewünscht«, erklärte Frau Anschütz feierlich, »und jetzt ist es endlich wahr geworden. Das ist doch eine Freude, lieber Erich, nicht wahr?«
Das Ehepaar Anschütz wollte Mirabella adoptieren. Sie waren aus Düsseldorf nach Heiligenbronn gekommen, um sich ein christliches Mädchen auszusuchen, und ihre Wahl war auf Mirabella gefallen. Eigentlich hätten sie lieber ein kleineres Mädchen gehabt, doch die Jüngeren waren alle der Spanischen Grippe zum Opfer gefallen, außer der vierjährigen Marga, aber die war taub.
»Und wir wollen doch, dass unsere Tochter hört, was wir ihr zu sagen haben, ist es nicht so, Erich?«, sagte Frau Anschütz.
Erich nickte, und Mirabella nickte auch, obwohl Frau Anschütz sie gar nicht gefragt hatte. Dann nahm sie doch noch ein Leberwurstbrot, einzig und allein, um Frau Anschütz zu erfreuen. Sie wollte unbedingt, dass sie zufrieden mit ihr waren, Frau Anschütz und Herr Anschütz ebenfalls. Damit sie sie bei sich behielten und nicht wieder zurück nach Heiligenbronn schickten.
Sie dürfen niemals erfahren, wie ich wirklich bin, dachte sie. Dass ich die Dümmste in der Klasse war und die Ungeschickteste und dass ich nicht an Gott glaube. All das muss ich vor ihnen geheim halten, damit sie mich lieb gewinnen wie ihr eigenes Fleisch und Blut.
Ab jetzt sollte alles gut werden, beschloss Mirabella.
Zehntes Kapitel
I.
Nachdem Hilde und Elfie gegangen waren, fegte Maria das Atelier. All die Perlen, die im Laufe eines Arbeitstags auf den Boden fielen, zusammengekehrt war es ein glitzernder Berg, durchmischt von Staub, Dreck und Zigarettenasche. Weg, weg, weg mit der ganzen Pracht, mit den Glasperlen und Plastikblumen, es lohnte sich nicht, dass man sich nach ihnen bückte.
Ihr Rücken schmerzte, als sie sich wieder aufrichtete. Es war so dröhnend still in der Werkstatt. Den ganzen Tag dieses Geplapper und Gerede über Nichtigkeiten, das Lachen und die Unbeschwertheit der Mädchen und dann die Stille am Abend. Maria ging in den kleinen, dunklen Küchenraum und schob den Wasserkessel auf den Kocher, aber bevor sie die Flamme anzündete, zog sie ihn wieder zurück. Kein Kaffee mehr um diese Zeit, sonst lag sie wieder die halbe Nacht wach.
Draußen schlug die Glocke der Martinskirche zwei Mal. Halb acht.
Die kleine nackte Glühbirne über dem Tisch stemmte sich tapfer gegen die Dunkelheit, die in den Ecken des Zimmers lauerte. Maria nahm ihren Mantel vom Haken an der Wand und schlüpfte hinein, ihre Hände fuhren in die Taschen auf der Suche nach dem Schlüssel. Sie fand ihn nicht, stattdessen stießen ihre Fingerspitzen auf etwas anderes. Ein Stück Papier, ein Briefumschlag.
Sie
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