Zitronen im Mondschein
Mutter? Das war die Frage, die am Ende blieb.
Schon auf der Rückfahrt aus Heiligenbronn nach Freiburg hatte sie gespürt, dass es ein Fehler war. Sie konnte aber nicht mehr zurück, sie hatte ja ihr letztes Geld für die Zugfahrkartenausgegeben, und außerdem war es am besten so, wie es war.
Marthe, Domenica, Silvia, sogar Direktor Lombardi – sie alle hatten Maria zugeredet, das Kind ins Kloster zu geben. Dort hat sie es doch gut, versicherten sie Maria, und in ein paar Monaten, wenn der Krieg vorüber ist, holst du sie wieder her, und alles ist wie früher. Aber sobald Maria sich abwandte, spürte sie ihre Augen im Rücken und die Verständnislosigkeit. Es mag das Beste sein, aber ich hätte es nie und nimmer übers Herz gebracht, dachte eine jede, und Herr Lombardi dachte es auch.
Mirko dagegen schwieg von morgens bis abends. Oft hatte er entzündete Augen. Maria hasste ihn dafür. Du wolltest es doch auch, dachte sie. Du hast mir doch noch zugeredet, dass ich sie wegbringe, oder jedenfalls hast du nichts dagegen gesagt, aber jetzt tust du, als ob es allein meine Entscheidung gewesen wäre. Sie wartete darauf, dass er sie angriff und beschimpfte, sie hoffte geradezu darauf und legte sich die Worte zurecht, mit denen sie sich verteidigen wollte. Er blieb jedoch stumm.
Im April zogen sie weiter, aber schon nach den ersten Wochen war klar, dass der Zirkus keine Zukunft hatte. Die Leute hatten kein Geld mehr für die Vorstellungen, und sie hatten auch keinen Sinn mehr für Artisten und Clowns und dressierte Pudel. Die Männer waren im Krieg, und die Frauen mussten alles alleine bewältigen, die Arbeit und den Hunger und die Trauer um die Toten.
Manchmal spielten sie abends vor drei oder vier Leuten.
Die Truppe begann sich aufzulösen. Sascha, Pito, Blasius und Silvan zogen in den Krieg. Als sie sich vor einem Jahr gemeldet hatten, hatte man sie nicht nehmen wollen, jetzt, ein paar Tausend Tote später, war man offensichtlich nicht mehr so wählerisch. »Sie sind zwar keine richtigen Deutschen, aber als Kanonenfutter sind sie gut genug«, sagte Marthe, die im Herbst an Auszehrung starb, genau wie Josef und Meister Nicolas. Silvia und Carlos zogen mit ihren drei Kindern ins Bayrische zu Silvias Eltern.
»Da ist sie all die Jahre mit uns herumgefahren und hat ihre Eltern nicht ein einziges Mal besucht, nicht einmal erwähnt hat sie sie«, spottete Domenica. »Aber in der erstbesten Notlage – husch, geht es wieder heim, als wäre nichts gewesen.« Sie war allerdings nur neidisch, weil sie selbst niemanden hatte, zu dem sie mit ihrer Tochter und den Enkelkindern hätte fliehen können.
Im Winter 1915 starb schließlich auch Direktor Lombardi. Lungenentzündung, vermerkte der untersuchende Arzt auf dem Totenschein, aber jedermann im Zirkus wusste, dass die eigentliche Todesursache sein gebrochenes Herz war. Von Herrn Lombardis Tod erfuhr Maria jedoch erst sehr viel später in einem Brief von Chiara. Als es passierte, hatte auch sie den Zirkus schon lange verlassen.
Mirko hatte sie letztendlich dazu gebracht. Wenn er an jenem Sommerabend nicht zu ihr ins Zelt gekommen wäre, wäre sie vermutlich noch lange beim Zirkus geblieben und hätte den Hunger und das Elend und das langsame Sterben einfach ertragen. Aber Mirko setzte einen Schlusspunkt.
Sie hatte schon im Bett gelegen, als er zu ihr hereinkam, sie ging damals immer früh schlafen. Sie stand also wieder auf und schlüpfte in ihren zerschlissenen Morgenmantel und in die Schuhe.
»Ich habe nachgedacht, und jetzt bin ich zu einer Lösung gekommen, wie wir es machen könnten«, sagte Mirko sehr schnell, als befürchtete er, dass ihn mitten im Satz der Mut verlassen könnte.
»Was meinst du?«, fragte Maria. Sie setzte sich wieder auf ihr Bett, zog die Knie an die Brust und legte die Arme um die Beine, weil ihr so kalt war.
»Hör mich an, bitte«, sagte Mirko. »Hör mich an und sag nichts, sondern denk zuerst einmal darüber nach, und entscheide dich dann.«
Er wartete so lange ab, bis sie nickte, dann begann er. »Wir holen sie wieder zurück. Sie gehört doch zu uns, und dieses Kloster … das ist kein Leben für sie, nicht für unsere Mirabella.Ich habe einen Bekannten in der Schweiz, dem habe ich geschrieben, der nimmt uns auf, so lange, bis wir dort einen neuen Zirkus gefunden haben oder ein Variététheater. Die Schweiz ist neutral, da ist alles besser …«
»Aber die Schweiz ist dicht für Deutsche«, warf Maria ein, obwohl sie doch
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