Zitronen im Mondschein
es nur noch 350 Gramm pro Woche. Für ein Kilo Kartoffeln zahlte man auf dem Markt 1 Mark, obwohl der festgesetzte Höchstpreis nur 15 Pfennige betrug. Nach dem Essen knurrten ihre Mägen genauso wie vorher. Um den Hunger zu vergessen, unterhielten sie sich. Josef erzählte von seinem Leben vor dem Krieg, Maria erzählte von ihrer Zeit im Zirkus, aber meistens redeten sie von Mirabella und wie man sie wiederbekommen konnte.
Dann ging Maria in ihre Kammer, doch sobald der Hauswirt das Licht im Flur ausmachte, schlich sie sich wieder zurück. Sie blieben die ganze Nacht zusammen. Am Anfang dachte Maria noch darüber nach, ob sie nur aus Dankbarkeit mit ihm schlief, dann hörte sie auf zu grübeln. Es war sehr schön, bei Josef zu liegen und ihn zu spüren. Auch wenn er nur ein Bein hatte.
Sie hielten sich gegenseitig fest, und Maria schloss die Augen, wenn er ihren Namen flüsterte.
Mehr war da nicht. Aber auch nicht weniger.
Am 3. November 1918 traten die Matrosen in Kiel in den Streik. Die Protestwelle schwappte in die anderen Hafenstädte über und breitete sich im ganzen Land aus. »Schluss mit dem Krieg!«, riefen die Leute nun auch in Karlsruhe. »Nieder mit dem Kaiser!«
Am 9. November wurde die Republik ausgerufen, am 11. November streckte Deutschland die Waffen. Der Krieg war verloren. Es war vorbei.
Einen Tag später stellte die Munitionsfabrik ihre Produktion ein. Alle Arbeiter wurden mit sofortiger Wirkung entlassen. »Für uns gibt es keine Zukunft mehr«, sagte der Fabrikdirektor Weiler in einer letzten Ansprache vor der Belegschaft. Die Leute applaudierten und jubelten, ein paar Männer warfenihre Mützen in die Luft, obwohl keiner von ihnen wusste, wovon er nun leben sollte. Es war genau wie damals, als der Krieg ausgebrochen war. Nur dass zwischen damals und heute unzählige Tote und Versehrte lagen.
Als in Berlin die Übergangsregierung unter dem neuen Reichskanzler Friedrich Ebert ihre Arbeit aufnahm, machte Josef Maria einen Heiratsantrag. »Wenn wir verheiratet sind, wird es leichter, Mirabella zurückzuholen«, sagte er, und das gab den Ausschlag für ihre Antwort.
»Nein«, sagte sie. »Wenn ich dich heirate, dann muss ich dich um deinetwillen heiraten und nicht wegen Mirabella.«
»Heirate mich also um meinetwillen.«
»Es geht nicht«, sagte sie. »Es geht einfach nicht.«
Er nickte, danach sprach er sie nie wieder darauf an.
Zwei Wochen später kam der Brief aus Heiligenbronn. Eine runde Mädchenhandschrift auf dem Umschlag. Marias Hände zitterten, als sie das Kuvert aufriss, sie musste das Blatt auf den Tisch legen, um die wenigen Zeilen lesen zu können.
Meine liebe Frau,
Ihre Mirabella finden Sie nun dort: Ehepaar Anschütz, Reichsstraße No. 25 in Düsseldorf.
Ich wünsche sehr, dass die Muttergottes Ihnen beisteht.
Ihre Schwester Innozenz
Franziskanerkloster Heiligenbronn.
Maria verbrachte eine letzte Nacht mit Josef. Als sie ihm beim Frühstück von dem Brief erzählte, lächelte er. »Also wirst du mich nun verlassen«, sagte er. Sein Ton war sachlich, fast beiläufig, nur seine blauen Augen schienen auf einmal dunkler als sonst.
»Bitte versteh mich.« Sie machte ihm keine falschen Versprechungen. Dass sie gemeinsam mit Mirabella zu ihm zurückkehren würde. Dass er sie in Düsseldorf treffen könnte. Dass sie sich wieder sehen würden, irgendwann. Die Sache war beendet.
Er brachte sie nicht zum Zug, aber er küsste sie zum Abschied. »Leb wohl«, sagte er. »Viel Glück.«
Sie wusste, dass er um sie weinen würde, sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Als der Zug aus dem Bahnhof fuhr, weinte sie selbst, und das überraschte sie. Also habe ich ihn doch geliebt, stellte sie voller Verwunderung fest.
Ludwig, Quirin. Josef. Von einem Tag zum anderen war er einer von ihnen. Vergangenheit.
Elftes Kapitel
I.
Freie Erde
nannten sie die Siedlung im Eller Forst. Es waren vier Häuser und ein paar Holzhütten mit Grasdächern, ein Garten, in dem Kartoffeln, Gurken und Erdbeeren wuchsen, und eine Weide mit zwei Kühen und einer Ziege. Darum herum Wald. Es war wie auf dem Land und doch in der Stadt.
Ludwig hatte die Adresse von Wollheim, einem Künstler, den er aus Berlin kannte. »Da kommst du fürs Erste unter«, hatte Wollheim Ludwig erklärt, als er hörte, dass dieser nach Düsseldorf ziehen wollte. Am 26. August 1926 war Ludwig mit dem Zug nach Düsseldorf gefahren, und am Bahnhof hatte er sich direkt in den Autobus nach Eller gesetzt. Das
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