Zitronen im Mondschein
Argumente vor. Die Mutter Oberin rückte an ihrer Brille und las den Brief, dann räusperte sie sich. »Schön und gut«, begann sie, während sie Maria den Brief wieder zurückgab. »Bedauerlicherweise ist die kleine Mirabella aber nicht mehr bei uns.«
Marias Blut rauschte so laut in ihren Ohren, dass sie die Worte der Oberin kaum verstehen konnte, und in dem Rauschen war ein einziger Gedanke, der sich wirbelnd um sich selber drehte wie ein Blatt in einem Wasserstrudel. Sie ist tot. Sie ist tot. Sie ist tot. Maria wollte etwas sagen, aber als sie den Mund öffnete, brachte sie keinen Laut heraus.
Die Oberin hob die Hand und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Ihre Tochter ist bei guten Menschen. Bei einer christlichen Familie, die sie aufgenommen hat, an Kindes statt.«
»An Kindes statt? Aber sie ist mein Kind!«
Der diffuse Blick musterte sie. Die Oberin schwieg.
»Wo ist sie? Wo hat man sie hingebracht?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Aber ich muss sie doch sehen.«
»Das ist nicht möglich.«
»Ich bitte Sie!« Nein, es war falsch zu bitten, dachte Maria, sie musste ihr Recht einfordern, so wie Josef es gesagt hatte, Mirabella gehörte schließlich ihr, keiner durfte sie ihr wegnehmen. »Ich … ich bestehe darauf.« Aber die Worte klangen dünn und lächerlich und bewirkten nichts.
»Es tut mir leid«, sagte die Oberin, während sie sich gleichzeitig erhob. Ihre Stimme war vollkommen ruhig. Dann ging sie, und eine andere Nonne kam in den Raum und reichte Maria ein Glas Wasser und sagte irgendetwas, das Maria nicht verstand.
»Ich muss sie finden«, sagte sie. »Mirabella ist meine Tochter.«
Die Schwester lächelte und tätschelte Marias Unterarm. »Es wird schon alles wieder gut werden.«
»Bitte«, flüsterte Maria. »Sie müssen mir helfen. Meine Mirabella steht unter dem Schutz der Jungfrau Maria.« Warum sie den letzten Satz hinzufügte, wusste sie selbst nicht.
»Ich weiß«, sagte die Schwester immer noch lächelnd. Sie hatte ein sehr schmales Gesicht, von der spitzen Nase zogen sich scharfe Falten zu den Mundwinkeln. »Die Heilige Maria ist ihre Patronin.«
»Hier ist meine Anschrift.« Maria reichte ihr den Briefumschlag des Anwaltsschreibens, auf dem ihre Karlsruher Adresse stand. »Finden Sie heraus, wo Mirabella ist, und schreiben Sie mir. Bitte!«
Die Nonne faltete den Umschlag gedankenverloren zusammen und ließ ihn in ihrer Rocktasche verschwinden. »Die heiligeJungfrau lässt keinen im Stich. Wer unter ihrem Schutz steht, dem ist wohl getan.«
Hatte sie überhaupt verstanden, was Maria von ihr wollte? Maria straffte ihre Schultern und stellte sich sehr aufrecht hin. »Ich werde im Übrigen meinen Anwalt über die Angelegenheit in Kenntnis setzen, damit er etwas unternimmt.«
Das war der richtige Ton, so hätte sie auch vorher mit der Oberin reden sollen. An der Schwester perlten die Worte jedoch ab wie Öl.
»Tun Sie das, mein liebes Kind«, sagte sie gütig. »Der Herr sei mit Ihnen.«
Josef rief seinen Großonkel in München an, der versprach, ein weiteres Schreiben an die Klosterleitung aufzusetzen. »Die Nonnen hätten Mirabella nicht zur Adoption freigeben dürfen«, erklärte Josef.
»Ich hätte sie nie dorthin geben dürfen«, sagte Maria.
Was bist du nur für eine Mutter?
»Wir holen sie wieder zurück, wo immer sie ist.«
Aber der Advokat ließ wochenlang nichts von sich hören. »Vielleicht hat er sich direkt an die Klosterleitung gewandt«, vermutete Josef und rief noch einmal in München an, doch sein Großonkel hatte die Angelegenheit nur vergessen. »Er begibt sich nun aber unverzüglich daran.«
Mitte August kam sein Schreiben in Karlsruhe an. Maria schickte es weiter nach Heiligenbronn und bekam wieder keine Antwort.
»Wir müssen uns hier in Karlsruhe einen Anwalt suchen, der die Sache vertritt«, meinte Josef.
Ein Anwalt kostete allerdings Geld, und Maria hatte nicht mehr als ein paar Mark gespart. »Ich schreibe noch einmal an meinen Großonkel. Vielleicht kann er uns etwas raten«, sagte Josef.
Es wurde September und Oktober, in der Fabrik wurde jetzt viel weniger Munition produziert, weil sich zwei Drittel der Arbeiter mit der Spanischen Grippe infiziert hatten und nicht zurArbeit erschienen. Maria und Josef wurden beide nicht krank, dafür mussten sie jetzt zehn Stunden arbeiten anstatt neun.
Nach der Arbeit aßen sie gemeinsam zu Abend. Die wöchentliche Brotration war Anfang des Monats auf 1700 Gramm gesenkt worden, Fleisch gab
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