Zitronen im Mondschein
reden. Er erzählte Ludwig sein ganzes Leben, von seiner Mutter und seinen Schwestern, seiner Schulzeit, von Mary Wigman, vom Ausdruckstanz – von seiner Einsamkeit, von seiner Liebe.
Es brauchte eine ganze Weile, bis Ludwig begriff, dass er damit gemeint war. Ludwig war Martins Liebe. Jedenfalls bildete Martin sich das ein. »Du bist mein Ein und Alles«, sagte er unglücklich über das Kindergeschrei, das Rattern des Zuges und das Holpern der Eisenbahnschwellen hinweg. Ludwig sah ihn fassungslos an. Martin war jung und schön und durchtrainiert, er selbst war alt und verbraucht. »Aber nein«, sagte er. »Das kann nicht sein.«
In Heilbronn verschwand Martin mit einer Flasche Wein auf sein Zimmer, und Ludwig machte einen Spaziergang. Bei dieser Gelegenheit stieß er auf den Zirkus.
Der Name hatte sich geändert.
Zirkus Lombardi
hieß nun Zirkus Eltinger. Auch das große Zirkuszelt sah anders aus als früher, es war rot und blau gestreift, und die Fahne an der Spitze war gelb. Deshalb erkannte Ludwig den Zirkus nicht wieder. Er wäre sonst schnell weitergegangen, er hatte genug an seiner Vergangenheit zu tragen, er brauchte nicht noch mehr Erinnerungen.
So aber ging er zur Kasse, um sich eine Karte zu kaufen, und neben der Kasse stand der Zwerg. Er starrte Ludwig an, nurLudwig, obwohl vor ihm und hinter ihm noch andere Leute waren. Es war, als hätte er auf Ludwig gewartet.
»Erinnerst du dich an mich?«, fragte der Zwerg.
Ludwig zuckte mit den Schultern, aber im selben Moment sah er ihn plötzlich wieder vor sich: vor dem Wahrsagerzelt, mit seinem Strickzeug auf den Knien. »Marias Zwerg.«
»Suchst du sie? Du findest sie nicht mehr hier.«
»Nein, ich wusste gar nicht, dass … Wo ist sie? Ist sie tot?«
»Sie hat uns verlassen. Komm mit!« Der Zwerg drehte sich um und ging weg, ohne sich umzusehen, ob Ludwig ihm folgte.
Er brachte ihn zu einem kleinen Wohnwagen, davor standen zwei Stühle und ein Tisch mit einer dampfenden Teekanne. Als hätte er mich erwartet, dachte Ludwig wieder.
»Es ist Zeit, dass du dich einmal blicken lässt«, sagte der Zwerg, während er Platz nahm. »Ich kann dir aber nicht sagen, wo du sie findest.«
Ludwig erinnerte sich plötzlich daran, dass er den Zwerg früher schon nicht gemocht hatte. Dieses große, alte, besserwisserische Gesicht über dem kleinen Körper. Damals hatte er keinen Bart gehabt, jetzt trug er einen, er war graumeliert und sah aus wie angeklebt.
»Was willst du eigentlich von mir?«, fragte Ludwig scharf.
Der Zwerg schwieg, während er Tee einschenkte und Ludwig eine Tasse reichte. »Du hast eine Tochter, wusstest du das?«
»Eine Tochter? Von Maria?« Ludwig schob die Tasse von sich, er wollte keinen Tee, er wollte auch nichts hören. Er wäre am liebsten aufgestanden und weggerannt, aber jetzt war es zu spät.
»Sie heißt Mirabella. Sie wohnt in Düsseldorf. Arbeitet als Servierfräulein im Goldenen Ochsen.«
»Und Maria? Was soll das Ganze? So rede doch!«
Der Zwerg lächelte, trank Tee und schwieg. Ludwig starrte ihn drohend an, als könne er ihn dadurch zum Reden zwingen, aber es hatte keinen Zweck. Aus dem Zirkuszelt hörte man einen Tusch und dann Applaus. Ludwig hatte plötzlich das Gefühl, dass jemand hinter ihm stand und ihn ansah. Maria. Er drehte sich um, aber da war niemand.
»Ich glaube, es ist an der Zeit, dass eins zum anderen kommt«, sagte der Zwerg, nachdem er seinen Tee ausgetrunken und Ludwig seine Tasse immer noch nicht angerührt hatte. Ludwig stand auf. »Zum Goldenen Ochsen. Düsseldorf«, sagte der Zwerg. »Mirabella.«
Danach hatte Ludwig sein Gepäck aus der Pension geholt und war zurück zum Bahnhof gegangen.
Am nächsten Tag kündigte er seine Arbeit in der Brauerei. Es war Martin gegenüber gemein, aber er hatte jetzt andere Probleme.
Er wusste sofort, dass er keine Wahl hatte. Er musste nach Düsseldorf. Er musste seine Tochter finden. Die Sache mit Maria hatte er niemals abgeschlossen. Nachts träumte er von ihr, obwohl es zwanzig Jahre her war, dass sie sich von ihm getrennt hatte. Jetzt wusste er, warum. Weil da noch etwas war zwischen ihnen, eine gemeinsame Tochter. Mirabella.
Er wusste, dass er nach Düsseldorf musste. Dennoch brauchte er vier Monate, um den endgültigen Beschluss zu fassen, seine Wohnung zu kündigen und aufzubrechen.
Letztendlich war es das Geld, das den Ausschlag gab. Sein Erspartes war aufgebraucht. Er musste sich eine neue Arbeit suchen, das konnte er genauso gut in Düsseldorf
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