Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
Vom Netzwerk:
Übersinnliches?«, fragte sie Otto,
    »Du fragst dich, ob Battaglia dein Vater war«, entgegnete er. »Er hat dir das Leben gerettet, genau wie deine Mutter es dir geweissagt hat.«
    Natürlich war auch er darauf gekommen. Es war ja auch nicht allzu schwer, wenn man eins und eins zusammenzählen konnte.
    »Sie ist verrückt.«
    »Aber ganz sicher bist du dir nicht. Warum fragst du sie nicht einfach, ob er dein Vater war?«
    »Weil es hirnverbrannt ist. Nero und meine Mutter. Er hätte sich niemals auf sie eingelassen. Es ist nichts als nur ein dummer Zufall.«
    »Warum verachtest du sie so sehr?«, fragte Otto.
    Warum wollte er das nun wieder wissen? Wahrscheinlich dachte er wieder an seinen Doktor Freud und was er alles in den Abgründen ihrer Seele entdecken würde, wenn sie ihn nur einmal einen Blick hineinwerfen ließe. Mira blickte auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass sie nach Hause musste.
    »Willst du keine Antwort?«, fragte Otto. »Du hast mich doch etwas gefragt.«
    Ob er an Übersinnliches glaubte. Aber jetzt interessierte sie sich wirklich nicht mehr für seine Antwort, sie interessierte sich überhaupt nicht mehr für ihn. Sie wollte nur noch weg. »Glaubst du also daran?«, fragte sie widerwillig.
    Otto blieb stehen und schaute auf den Rhein, ein gleißendes graues Stahlband, auf dem Schiffe entlangglitten. Tupfen bunt gekleideter Menschen auf einem der Boote, am Bug eine Braut mit weißem Schleier wie ein glitzernder Sonnenstrahl.
    »Ich glaube«, sagte Otto, ohne den Blick vom Fluss zu wenden, »dass die Wirklichkeit aus unendlich vielen Schichten besteht, aus einem Oben und Unten, einem Vorne und Hinten, einem Drüber und Drunter, aus gestern, heute und morgen, aus Verständlichem und Unverständlichem, aber das Unverständliche ist der weitaus größere Teil.«
    Musik flog von dem Hochzeitsboot zur Uferpromenade wie ein Gruß.
» Mir ist heut so nach Tamerlan, nach Tamerlan zumut.
« Als Mira dieses Lied das letzte Mal gehört hatte, war Nero noch am Leben gewesen.
    »Und ich glaube, dass deine Mutter viel klüger ist als du, weil sie begreift, dass sie nicht alles begreifen kann«, sagte Otto.
    Als Mira sechs oder sieben Jahre alt gewesen war, war sie Schlittschuh gelaufen, auf irgendeinem Fluss in irgendeiner Stadt, in der der Zirkus lagerte. Es hatte tagelang gefroren. »Da ist kein Wasser mehr im Fluss«, hatte sie einen Mann sagen hören, als sie morgens zum Fluss gelaufen war. »Kein Wasser, nur noch Eis.« Ihre Schlittschuhe waren ein bisschen zu groß, sie hatte sie von Manuel geerbt, der aus ihnen herausgewachsen war. Nachmittags war sie zum Fluss gerannt, sie hatte sich noch gewundert, dass niemand außer ihr auf die Idee gekommen war, Eis zu laufen. Sie zog die Schuhe an und machte die ersten vorsichtigen Schritte – slisch, slisch, slisch. Auf dem Eis war eine Schicht aus Wasser, dadurch kam sie nicht richtig voran, aber das war vielleicht ganz gut so. Im schwarzen Glas des Eises sah sie gelbe Blätter, einen moosbewachsenen Stock, einen Frosch, der nach unten tauchte. Nur ein erstarrter Fuß mit Schwimmhäuten ragte aus dem Eis.
    Slisch, slisch, slisch, schoben sich die Schlittschuhe über das Eis, und der Körper folgte den Füßen. Was blieb ihm auch anderes übrig? Bis zur Mitte des Flusses, da brach Mira ein. Wenn Mirko nicht auf einmal da gewesen wäre, wenn Mirko nicht auf sie aufgepasst hätte, wie er immer auf sie aufpasste, dann wäre sie dort und an diesem Tag ertrunken. Aber Mirko sah sie, rutschte und glitt ihr nach, legte sich flach aufs Eis und zog sie aus dem Wasser.
    Sie dachte oft daran, wie es wäre, wenn er sie nicht gerettet hätte. Wenn sie im Eis erstarrt wäre wie die Blätter, wie der Frosch, die Arme suchend ausgestreckt, bis sie im Frühling wieder aufgetaut wäre. Alles was danach passiert war, wäre nie geschehen.
     
    Gudrun war schon da, als Mira nach Hause kam. Sie stand am Fenster und starrte hinaus auf die graue Hofmauer, an der sich vier Efeuranken emporrankten wie dünne Finger, die sich vor etwas ekelten.
    »Guten Abend«, sagte Mira.
    Gudrun blickte aus dem Fenster und antwortete nicht.
    »Ist etwas geschehen?«
    Sie stellte sich neben Gudrun, die immer noch nicht reagierte. Ihr rotbraunes Haar glänzte in der Abendsonne, ihr Gesicht war weiß und glatt. Kupfer und Marmor. Nur unter dem rechten Ohr, das Mira zugewandt war, zuckte ein winziger Muskel.
    »Was ist denn?«
    »Iris«, sagte Gudrun. »Sie hat sich das Leben genommen.«
    »Frau

Weitere Kostenlose Bücher