Zitronen im Mondschein
der SA-Mann aus der Anarchistensiedlung geflohen war, war die Polizei erschienen. Man hatte ihn zur Fahndung ausgeschrieben, aber bis heute fehlte jede Spur von ihm. Man wusste ja nicht einmal seinen Namen.
Also konnte er heute seine Stimme für den neuen Reichstag abgeben, so gut wie Mira, Anselm, Otto und Gudrun. Nur Nero Battaglia konnte sein Kreuz nicht mehr machen, weil er tot war. Was er wohl gewählt hätte? Die Kommunisten, um Mira einenGefallen zu tun? Vielleicht wäre er gar nicht zur Wahl gegangen. Die Anarchosyndikalisten beteiligten sich nicht am Parlamentarismus, sie wollten die Staatsmacht schließlich nicht erobern, sondern abschaffen. Aber war Nero überhaupt Anarchist gewesen?
Nachdem ihr Wahlzettel im Schlitz der Urne verschwunden war, fuhr sie in den Eller Forst. An den Häusern der Siedlung vorbei, in den Wald, zu Neros Grab.
Die anderen trafen sich jetzt im Probenraum auf der Bolker Straße, tranken Bier, kneteten ihre Hände, hofften und warteten, aber vor morgen würde sie ohnehin nichts erfahren.
»Wenn nur die SPD nicht zulegt«, würde Wolfgang Langhoff sagen. »Mit den Faschisten werden wir fertig, auch wenn sie kurzzeitig an die Macht kommen. Nach ein paar Monaten sind sie wieder draußen aus dem Reichstag, aus ganz Deutschland. Und wenn dann alles am Boden liegt, kommt unsere Stunde.«
Über das faschistische Chaos zur Diktatur des Proletariats, zum Arbeiter- und Bauernstaat, zum Paradies auf Erden. Das war der Plan.
Nero Battaglia
, stand auf dem Holzschild, das die Anarchosyndikalisten an einen Pfahl genagelt und ins Grab gesteckt hatten.
† 4 . August 1930
. Schild und Pfahl bildeten ein Kreuz, aber das war natürlich nicht beabsichtigt.
»Wer warst du wirklich?«, murmelte Mira und bekam keine Antwort.
Der Strauß mit den roten Rosen begann schon zu welken.
Sie setzte sich unter die Erle, lehnte ihren Rücken an den Baumstamm und schlief ein. Sie träumte von der Rheinterrasse und dass sie Nero Battaglia seinen Kaffee brachte. »Ich wollte aber Tee«, sagte er ganz empört, als sie ihm die Tasse hinstellte. Sie lief zurück in die Küche und holte ein Kännchen Schwarztee, aber als sie ihm einschenkte, war es wieder Kaffee.
»Sie meinen mich zu kennen«, sagte Nero. »Aber Sie wissen gar nichts.«
Dann rief ihr Amelie von der Essensausgabe etwas zu, mit einer fremden und gleichzeitig sehr vertrauten Stimme. »Du liebe Zeit«, rief sie. »Was machst du denn nur hier, Mira?«
Mira schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht ihrer Mutter. Einen Moment lang glaubte sie, von einem Traum in den anderen geraten zu sein, bis sie den Baumstamm in ihrem Rücken spürte, hart und wirklich. Ihre Mutter betrachtete sie mit einer Mischung aus Besorgnis und Befremden. Mira merkte, dass ihr ein dünner Speichelfaden aus dem Mund gelaufen war, während sie geschlafen hatte. Hastig wischte sie sich mit dem Handrücken übers Kinn.
«Bist du krank?«, erkundigte sich ihre Mutter.
»Was tust du hier?«, fragte Mira gleichzeitig und stand dabei auf. Ihr war schwindlig. Wie lange hatte sie geschlafen? Fünf Minuten? Mehrere Stunden? Das Sonnenlicht flirrte immer noch durch die Blätter der Erle und überzog ihren blauen Rock mit einem unordentlichen Muster aus Punkten und Flecken. Ihre Knochen schmerzten. »Bist du mir – gefolgt?«
»Herr Franz war gestern bei mir im Atelier«, sagte ihre Mutter. »Er hat mir alles erzählt.«
»Otto? Was muss der sich einmischen!«
»Mira«, sagte ihre Mutter. »Ich hatte ein Recht, das zu erfahren.« Mira. Vorhin, als Mira aufgewacht war, hatte sie sie auch schon Mira genannt.
»Was zu erfahren?«, fragte Mira. »Es gibt nichts zu erfahren. Nero ist tot. Willst du ihn ausgraben, um herauszufinden, ob er mein Vater war? Das Ganze ist mehr als zweiundzwanzig Jahre her.«
»Ich wollte sein Grab sehen. Und mit den Leuten reden, bei denen er gewohnt hat.«
»Die wissen auch nicht mehr über ihn als ich.«
»Was weißt du von ihm?«, fragte ihre Mutter und blinzelte dabei mehrmals hintereinander mit ihren schwarz getuschten Wimpern.
»Er hieß Nero Battaglia, aber ich glaube, das war nicht sein richtiger Name.«
»Er war ein Künstler, sagt Franz«, meinte ihre Mutter. »Was hat er gemalt? Große Landschaftsbilder und Porträts im expressionistischen Stil?«
»Er malte gar nicht. Er hat nur gezeichnet. Maschinen aus Tieren und Totenschädel und seltsame Kochrezepte. Es war sehr wirr.«
»Wie sah er aus?«
»Recht groß, hager, die Haare
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