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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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ernst und streng. »Was willst du?«, fragte sie noch einmal.
    »Ich wollte … können Sie mir aus der Hand lesen?«
    »Jetzt, am frühen Morgen?« Madame Argents Augenbrauen zogen sich zusammen. »Warum bist du letztens nach der Vorstellung nicht gekommen?«
    Maria dachte an Bruno und biss sich auf die Lippen, dann öffnete sie den Mund, um zu antworten, doch Madame Argent schnitt ihr mit einer flachen Handbewegung das Wort ab. »Ich habe eigentlich keine Zeit. Du siehst ja …« Sie zeigte auf das Chaos um sie herum. »Aber komm.«
    Sie brachte Maria zu einem kleinen Zelt ganz am Rande des Zirkusgeländes. Der Eingang war so niedrig, dass sich beidetief bücken mussten, um einzutreten. »Setz dich«, sagte die Wahrsagerin, dabei ließ sie sich selbst auf ein großes Kissen sinken. Maria setzte sich auf ein anderes Kissen. Im Gegensatz zu Madame Argent, die ihre Beine unter ihrem weiten Rock gekreuzt hatte und sehr aufrecht saß, wusste sie nicht, wohin mit ihren Füßen. Sie streckte sie schließlich nach vorne aus, so dass ihre Schuhe klobig und dreckig zwischen ihr und der Wahrsagerin lagen. Einen Moment lang waren auch ihre hässlichen Socken zu sehen, die am Bund geflickt waren, aber dann beugte sich Maria hastig nach vorn und zog den Rock über die Waden. Sie versuchte sich ebenfalls so würdevoll hinzusetzen wie Madame Argent, doch nach wenigen Sekunden schmerzte ihr Rücken so, dass sie wieder in sich zusammensank.
    »Also«, sagte Madame Argent, und Maria schluckte verlegen. Der Boden des Zeltes war mit einem schmutzigen Teppich bedeckt, der irgendwann einmal rot gewesen war. Man sah ihn aber kaum, denn überall lagen Dinge und Sachen: Kissen und bunte Kleider, Zettel und Schmuck, ein Paar Stiefel, eine Hundeleine, ein Ball. Das Bett war ein Strohsack mit einer Wolldecke, auf der sich ein schwarzer Kater räkelte, der Maria nachdenklich aus glänzenden Augen musterte. Auf einer großen Truhe standen eine angeschlagene Teekanne und zwei Tassen.
    »Gib mir deine Hand.«
    Zu ihrem Ärger zitterten ihre Finger, als Maria sie der Wahrsagerin hinstreckte. Madame Argent senkte ihre schwarzen Augen, sie atmete langsam und gleichmäßig, und nach einer Weile ging ihre Ruhe auf Maria über. Nach einigen Minuten hob Madame Argent den Blick von Marias Hand und sah sie an, und ihr Herz schlug wieder schneller. Sie bemühte sich, nicht zu blinzeln, aber sie schaffte es nur ganz kurz, dem Blick standzuhalten.
    Die Wahrsagerin räusperte sich. »Du willst mit uns kommen«, sagte sie. Ihre Stimme klang dabei überrascht, als wunderte sie sich über ihre eigenen Worte. »Aber der Grund dafür ist nicht der junge, große Mann mit den blonden Haaren«, fuhr sie fort, bevor Maria etwas entgegnen konnte. »Auch wenn du ihn nochliebst. Willst du wissen, was aus ihm wird?« Madame Argents Augen bohrten sich in ihre. Wieder sprach sie weiter, ehe Maria irgendetwas erwidert hatte. »Er liebt dich nicht. Er hat dich niemals geliebt, du hast dir immer nur etwas vorgemacht. Dieses Mädchen, für das er sich jetzt entschieden hat, wird er heiraten. Im nächsten Frühjahr schon. Es wird ein großes Fest, ich höre …« Ihre schwarzen Augen schlossen sich einen kurzen Moment lang, dann gingen sie wieder auf. »… Musik.«
    Walzer, dachte Maria. Er wird Walzer mit ihr tanzen, ihr schmaler Fuß zwischen seinen großen Füßen. Einszweidrei, einszweidrei. So, wie er es mir beigebracht hat. Aber er hat mich nie geliebt, ich habe mir nur etwas vorgemacht.
    »Tröste dich.« Madame Argents Stimme klang jetzt rau, fast höhnisch. »Er wird sie nicht glücklich machen. Noch im Sommer hat er die erste Geliebte. Aber er ist es nicht wert … Er ist ja auch nicht der Grund, warum du wegwillst.«
    Wie sie Maria ansah! Es war ein Gefühl, als ob sie durch ihre Augen in ihren Kopf tauchte und in ihr Gehirn schwamm, wo sie alles sah. Wichtiges und Unwichtiges. Schönes und Hässliches. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
    Madame Argent richtete ihren Blick wieder auf Marias Hand. Mit dem Zeigefinger fuhr sie die lange Linie nach, die sich über dem Daumenansatz quer über die Fläche zog und kurz vor dem Handballen ins Nichts auslief. Das ist die Lebenslinie, dachte Maria erschrocken. Was sah Madame Argent? Eine schlimme Krankheit? Ihren Tod? Sie wagte nicht zu fragen.
    »Man behandelt dich nicht gut«, sagte die Wahrsagerin. »Ich sehe Gewalt. Wer ist es?« Sie hob den Kopf und sah Maria an. »Dein Vater?«
    Marias Herz schlug einen

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