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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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war.
    «Unsinn.« Maria lachte.«Du bist der Zauberer. Ich bin nur schmückendes Beiwerk.« Sie wusste jedoch, dass er recht hatte. Das Publikum liebte sie. Sie konnte weder zaubern noch seiltanzen noch jonglieren, sie konnte nicht einmal reiten, aber wenn sie beim großen Finale zurück in die Manege kam, bekam sie von allen Künstlern den meisten Applaus.
    Die Begeisterung machte sie mutig. Ohne Madame Argent vorher zu fragen, trennte sie die Naht ihres bunten Rockes auf, vom Saum bis zum Oberschenkel. Wenn sie jetzt in den langen Kasten stieg, öffnete sich der Schlitz, und ihr Bein lag nackt und bloß da. Nur für einen Moment, aber lang genug für alle, die Augen im Kopf hatten.
    Maria selbst kam auf die Idee mit der Schlangennummer. Sie ließ Nikolas einen Kasten bauen, quadratisch und recht groß. Zwei Männer trugen ihn in die Mitte der Manege, und sie kletterte hinein, und während die Zuschauer noch über ihr schlankes rechtes Bein nachdachten und ob das andere wohl genauso aussähe, öffnete sie die unsichtbare Klappe auf der Unterseite des Kastens und kroch in den doppelten Boden. Dann brachte Meister Nikolas den Käfig mit der Würgeschlange herein, unterfürchterlichen Beschwörungen hob er ihn über den Kasten, öffnete das Gitter und ließ das Reptil hinunterfallen. Hinterher trugen vier starke Männer die Kiste einmal rund um die Manege, aber im letzten Moment gerieten sie ins Stolpern und ließen den Kasten fallen. Von innen öffnete Maria den Deckel – oder vielmehr den Boden –, und vor den erstaunten, ungläubigen, faszinierten Blicken kroch sie zurück auf die Manege in ihrer ganzen prallen Lebendigkeit. Von der Schlange fehlte jedoch jede Spur.
    Es wurde der Höhepunkt der Vorstellung: die schöne Jungfrau und
scheusslichä Schlanggä
, wie der Zirkusdirektor sie immer ankündigte. Dabei war Maria gar keine Jungfrau und die Schlange alt und steif und müde. Vermutlich hätte man sie und Maria stundenlang auf engstem Raum zusammensperren können, ohne dass irgendetwas geschehen wäre.

III.
    Maria liebte das Leben im Zirkus, sie liebte die Manege und den Geruch von nassen Planen, Pferdeäpfeln, Schweiß. Sie liebte den Applaus der Zuschauer, und sie liebte Madame Argent.
    Die Wahrsagerin war keine Französin, und Madame Argent war auch nicht ihr richtiger Name, aber wie sie in Wirklichkeit hieß, fand Maria nie heraus.«Namen sind Schall und Rauch«, antwortete sie nur, als Maria allen ihren Mut zusammennahm und sie danach fragte. Sie lagen in der Dunkelheit des kleinen Zeltes, Maria rechts und Madame Argent links und zwischen ihnen der übliche Berg an Kisten, Schachteln und Kleidungsstücken. Von draußen hörten sie das Stampfen von Pferdehufen und hin und wieder ein Schnauben und ein leises Wimmern, vielleicht war es der kleine Schneefuchs in seinem Käfig.
    «Als Sie mir im Haus meiner Eltern erschienen sind«, sagte Maria dann.«Was wollten Sie mir damals geben?« Madame Argent war eine der wenigen Personen im Zirkus, die sie nicht duzte. Die Wahrsagerin wurde von niemandem geduzt, nicht einmal vom Direktor, und niemand nannte sie je anders als Madame Argent.
    Madame Argent schwieg so lange, dass Maria glaubte, sie sei eingeschlafen.«Ich bin dir nicht erschienen«, gab sie dann zurück.«Das habe ich dir doch schon erklärt.«
    «Ich weiß es aber doch«, beharrte Maria.«Ich habe Sie im Hof gesehen. Ich bin doch nicht blöde.«
    «Jemand hat dir mein Bild geschickt«, sagte Madame Argent nachdenklich, nachdem sie wieder einige Zeit lang geschwiegen hatte.
    «Wer sollte das getan haben?«, fragte Maria zurück.«Gott oder der Teufel?« Die Bemerkung sollte ein Scherz sein, aber in der undurchdringlichen Dunkelheit klang sie nicht lustig, sondern beängstigend.
    «Gott«, sagte Madame Argent. Dieses Mal kam ihre Antwort sofort und ohne Zögern.«Denn es ist gut, dass du hier bist. Oder etwa nicht?«
    «Doch«, sagte Maria.«Es ist sehr gut.« Sie zögerte einen Moment lang. »Meinen Sie, es wird wieder geschehen?«, fragte sie dann.
    »Was?«
    »Dass ich Dinge sehe, Menschen, die nicht da sind.«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Madame Argent. »Keiner kann das wissen.«
    Dann schwiegen sie beide, und Maria dachte weiter darüber nach, was Madame Argent – oder vielmehr ihre Erscheinung – ihr damals hatte geben wollen. Sie würde es niemals herausfinden. Vielleicht war es ein neues Leben, dachte sie schließlich, kurz bevor sie einschlief. Und auch wenn ich es damals zurückgewiesen

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