Zitronen im Mondschein
weichen Schlamm drücken, schief und schwer hingen die feuchten Planen auf den Zeltstangen. Am nächsten Tag aber schlug das Wetter um, es fror. Die Zeltwände wurden hart und kalt, und die Metallhaken ragten zwischen frostverzuckerten Grashalmen hervor wie dünne Eiszapfen. Sie gaben keine Vorstellungen in Würzburg. »Bei der Kälte würden die Leute ohnehin nicht kommen«, erklärte Madame Argent.
In der ersten Dezemberwoche fiel der erste Schnee – dicke, flaumige Flocken, die die Kinder im Zirkus mit der gleichen Begeisterung begrüßten wie die Kinder in der Würzburger Altstadtund in den anderen Stadtvierteln. Die Erwachsenen dagegen seufzten und holten wollene Westen und Fellmäntel aus ihren Koffern und zogen übereinander, was sie besaßen. Maria hatte nur Sommerkleider und ein paar wärmere Sachen, die sie sich von Madame Argent geborgt hatte. »Du brauchst einen Mantel«, sagte die Wahrsagerin, als der Schnee die Plane des Zeltes nach innen zu drücken begann. »Wir gehen in die Stadt und kaufen Wollstoff, und Esmeralda schneidert ihn dir zurecht.«
Maria nestelte an dem Band des ledernen Beutels, der Tag und Nacht um ihren Hals hing. Darin war ihr ganzes Geld, all die Groschen, die ihr Meister Nicolas seit dem Sommer Woche für Woche ausbezahlt hatte. Das meiste gab sie Madame Argent für Kost und Logis, aber ein Teil blieb immer übrig, von dem sie bisher noch keinen Pfennig ausgegeben hatte.
»Schuhe brauche ich auch«, gab sie zu bedenken, und Madame Argent nickte.
»Dein Geld wird für beides reichen«, sagte sie, als ob sie durch Marias Bluse und ihr Hemd in den Beutel hineinschauen und die Groschen zählen könnte.
Sie gingen über die Alte Mainbrücke, unten im Fluss trieben Eisbrocken, die mit Schnee bezogen waren. »Im letzten Jahr war es bis Weihnachten mild«, sagte Madame Argent. »Dass der Winter nun so früh kommen muss.«
Maria sagte nichts. Ihre Hände waren so kalt, dass sie die Fingerspitzen nicht mehr spürte. Auch ihre Füße waren Eisklumpen. Aber daran hatte sie sich fast schon gewöhnt. Morgens, mittags, abends – ihr war immer kalt. Am schlimmsten war es jedoch in der Nacht. Sie wachte auf und fühlte sich steif vor Kälte, wie ein lebender Leichnam. Madame Argent hatte ihr zwei Schaffelle gegeben, auf denen sie lag, und zwei weitere, die sie über ihre Wolldecke breitete, sie trug zwei Paar Wollsocken und eine lange Hose, die ihr Meister Nicolas überlassen hatte, und darüber ihren Rock. Es nützte aber rein gar nichts oder jedenfalls nicht viel.
Maria zog die Strickjacke noch enger über der Brust zusammen. Ihr Atem bildete längliche weiße Wolken vor ihrem Mund.Wenn es wenigstens einen Ort gegeben hätte, an dem man sich hätte aufwärmen können! Aber im Zirkus war es überall gleich kalt. »Es ist nur am Anfang so schlimm«, hatte ihr die alte Marthe versichert, die im Zelt nebenan wohnte und früher Kunstreiterin gewesen war. »Hinterher spürt man die Kälte gar nicht mehr.«
Hinterher! Maria fragte sich, was Marthe wohl damit meinte. Nach Weihnachten? Nach ein paar Jahren? Oder nachdem man erfroren war?
Vor ihnen richtete sich der Dom in seiner mittelalterlichen Schroffheit auf. Die hohen Türme zu beiden Seiten des Mittelschiffs sahen aus wie Wehrtürme, die kleinen, schmalen Fensterschlitze wie Schießscharten. Maria duckte sich unwillkürlich, aber Madame Argent beachtete das Gotteshaus gar nicht, sie bog in eine Seitengasse ab. Sie gingen nach links und nach rechts und wieder nach links. Schon nach wenigen Metern war Maria vollkommen verloren in diesem Netz aus engen Straßen, kleinen Plätzen, hohen Häusern. Wie um alles in der Welt hatte sie Würzburg an Vellberg erinnern können? dachte sie jetzt. Es war ja ganz anders, groß und verworren, nie im Leben würde sie sich hier zurechtfinden.
Madame Argent dagegen schien jede Gasse, jeden Winkel zu kennen, sie machte große Schritte und zögerte keinen Moment.
Sie betraten schließlich einen kleinen dunklen Laden. Hinter einer langen Theke türmten sich Stoffballen auf deckenhohen Regalen. Links lagen die dicken Wollstoffe, Tweeds und Leinen, in gedeckten, stillen Farben, in der Mitte bunt bedruckte Baumwollstoffe und rechts die eleganten Materialien, schwereloser Tüll, glänzender Chintz, weicher Samt.
Maria brauchte eine ganze Weile, bis sie den kleinen, dicken Mann hinter dem Ladentisch bemerkte, der sie aus runden dunklen Augen misstrauisch musterte. Er grüßte sie nicht und machte auch keine
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