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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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Sommermonaten, als sie von Stadt zu Stadt gezogen waren, hatten sie niemals einen Gottesdienst besucht. Im Sommer war der Sonntag ja auch ein Tag der Arbeit, gleich drei Vorstellungen wurden für gewöhnlich gegeben, und die erste begann unmittelbar nach der Messe, da mochten die Pfarrer schimpfen und zetern, wie sie wollten.
    Seit der Zirkus aber hier im Winterlager war, zog an jedem Sonntagmorgen eine bunte Gruppe los. Aus irgendeinem Grund ging man nicht in die Marienkirche in der Festung, sondern zum weiter entfernten Käppele. Maria wurde gar nicht gefragt, ob sie mitwollte, die alte Marthe teilte ihr am Sonnabend einfach mit, dass sie sich am nächsten Morgen um acht bereithalten sollte.
    Maria hätte gerne etwas Besonderes angezogen, den
Sonntagsstaat
, wie sie zu Hause gesagt hatten, aber sie hatte nur die Kleider, die sie immer trug, und außerdem war es zu kalt. Also zog sie wieder alles übereinander, ihre vier Blusen und die drei Röcke und darunter, nach kurzem Zögern, die Hosen. Ein buntes Wolltuch um die Schultern, ein Kopftuch übers Haar. Als sie aus dem Zelt trat, kam sie sich vor wie ein bunter Elefant, riesig und unförmig. Sie trat neben Madame Argent, die mit den anderen am Feuer stand, einen dampfenden Becher in den Händen.
    »Da bist du ja endlich«, sagte die Wahrsagerin und reichte ihr ihren Kaffee. »Trink, ihr müsst gleich los.«
    »Kommen Sie nicht mit?«
    »Nein.« Madame Argent holte die Blechkanne vom Feuer und schenkte sich selbst Kaffee ein.
    »Sind Sie nicht katholisch?«
    Die Wahrsagerin schlürfte ihren Kaffee, verzog das Gesicht und antwortete nicht.
    »Keinen Fuß setzt sie in die Kirche, auch nicht bei den Evangelischen«, erklärte Marthe, als sie die abgetretenen Steinstufen zum Käppele hochgingen. Sie ging leicht vornübergebeugt, weil sie sich durch das Kunstreiten das Kreuz ruiniert hatte.
    »Vielleicht ist sie ja moslemisch«, sagte Silvan hinter ihnen. »Madame Muselman.« Er lachte spöttisch.
    Links und rechts der Treppe standen zahlreiche kleine Häuschen mit zwiebelförmigen Dächern, in denen lebensgroße Steinfiguren die einzelnen Szenen des Kreuzwegs nachstellten. Während sie das Kreuz trugen, weinten, jammerten oder den König der Juden verspotteten, schienen sie die Zirkusleute gleichzeitig misstrauisch zu beobachten.
    »Sie glaubt an keinen Gott«, wandte Domenica ein, die auf einmal neben ihnen ging. Sie tauchte immer so plötzlich auf, von einem Moment zum anderen war sie da und hörte zu und redete mit, und hinterher war sie genauso schnell wieder verschwunden. Mit dieser Nummer hätte Domenica im Zirkus auftreten können, dachte Maria, aber sie tat es nicht, stattdessen ließ sie sich von Pito, dem Messerwerfer, mit Dolchen und Schwertern attackieren.
    »Das stimmt nicht«, sagte Maria, die an jenes eine nächtliche Gespräch dachte, als Madame Argent ihr gesagt hatte, dass Gott Maria die Erscheinung geschickt hatte und nicht der Teufel. Die anderen hörten ihre Bemerkung aber nicht, oder sie interessierten sich nicht dafür.
    Maria hätte gerne gefragt, wie lange Madame Argent schon beim Zirkus Lombardi war, woher sie ursprünglich kam und was sie vorher gemacht hatte. Sie war sich ganz sicher, dass die Wahrsagerin nicht wie die meisten anderen im Zirkus aufgewachsen war, aber sie fand die richtigen Worte nicht. Außerdem hatte man das Thema gewechselt, man diskutierte jetzt über den Tanzbären, den man im Frühling vielleicht erwerben wollte, und ob es eine sinnvolle Anschaffung wäre, nachdem der alte nach gerade einmal einem halben Jahr gestorben war.
    Im Käppele drückten sie sich ganz hinten in die letzte Bank, die Männer rechts, die Frauen links, und vor ihnen waren zweileere Reihen. Genügend Abstand zu den übrigen Kirchenbesuchern, die sich allerdings immer wieder nervös zu ihnen umschauten, als wollten sie sichergehen, dass die Zirkusleute nicht plötzlich doch noch aufrückten.
    Seltsamerweise wirkte die Kirche von innen viel kleiner als von außen. Vielleicht lag es an den unzähligen Verzierungen, an den goldenen Friesen und Säulen, an den Skulpturen und Gemälden, mit denen jeder Winkel, jede Säule und jede Wand der Kapelle bedeckt war. Alles schien nach innen, nach unten zu drängen, auf die Menschen, die dort saßen, und obwohl Maria nicht mehr als eine Scheibe Brot gefrühstückt hatte, hatte sie plötzlich das Gefühl, übersatt zu sein. Sie konnte die hallenden Worten des Priesters nicht aufnehmen, der vorne die Messe

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