Zitronen im Mondschein
zelebrierte. Stattdessen flogen ihre Gedanken hierhin und dorthin, sie folgten einem goldenen Engel, der von einem Säulenbogen aus nach oben stieg, und landeten auf dem Bild in der Kuppel über ihrem Kopf. Die Muttergottes wurde von ihrem Sohn gekrönt, sie empfing den strahlenden Schmuck mit einem huldvollen Lächeln.
Kurz bevor Marias Augen weiterglitten, zur nächsten Kuppel, zum nächsten Bild, hatte sie plötzlich das Gefühl, dass sich die Augen in dem schmalen, weißen Madonnengesicht bewegten. Sie schaute genauer hin, und ihre Blicke begegneten sich, Marias Blick und der der Jungfrau Maria. Sie machte die Augen zu und öffnete sie wieder, die blauen Augen sahen sie immer noch an, unverwandt und durchdringend. Es war natürlich ein Irrtum, eine optische Sinnestäuschung, der Maler hatte die Augen der Jungfrau so angelegt, dass sie dem Blick des Betrachters zu folgen schienen.
Maria zwang sich wegzusehen, auf den Boden, wo ihre durchlöcherten Schuhe auf der Kniebank schmutzige Spuren hinterlassen hatten. Doch noch immer fühlte sie die Augen der Muttergottes auf ihrem Haupt. Sie bohrten sich durch ihr Kopftuch, durch ihr Haar, durch ihren Schädel in ihren Kopf.
Neben ihr und in den Bänken vor ihr standen alle auf, auch Maria erhob sich und sprach wie die anderen das Glaubensbekenntnis,
ich glaube an Gott, den Allmächtigen, und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn,
aber die ganze Zeit über spürte sie den Blick auf ihrem Scheitel. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und blickte wieder nach oben und stieß einen leisen Schrei aus, der sich jedoch im allgemeinen Gemurmel verlor. Denn es war nicht mehr das gemalte Antlitz der Jungfrau, das auf Maria heruntersah. Es war ein wirkliches, ein echtes Gesicht, das unter der Wölbung der Kuppel schwebte, ohne Körper, ohne Halt. Ein Frauengesicht, dunkle, schmale Augen über starken Wangenknochen, eine volle, geschwungene Oberlippe und eine Unterlippe, die im Verhältnis dazu ein wenig zu schmal war. Braune Haare, die sanft in die Stirn fielen, nach außen hin verliefen sie jedoch ins Ungewisse, wie eine verwischte Fotografie.
Maria rieb sich mit den Handrücken über die Augen; das Gesicht blieb dennoch über ihr schweben. Ich verliere den Verstand, dachte Maria, und im selben Moment begann das Abbild der Frau zu sprechen. Maria verstand ganz genau, was die Dame sagte, aber sie hätte es nicht wiederholen können, denn es waren keine einzelnen Worte. Es war eine Botschaft, die sie nicht durch die Ohren aufnahm, sondern irgendwo tief in ihrem Körper empfing und entschlüsselte.
Sie zog die schwere Kirchentür behutsam ins Schloss, dann stand sie auf dem Vorplatz der Kapelle und atmete schwer und schnell. Von drinnen drangen Orgelmusik und der dünne Gesang der Gemeinde. Der Gottesdienst war noch nicht einmal zur Hälfte vorüber, aber für Maria war es vorbei, sie hatte genug gehört. Von einer hohen Tanne auf der anderen Seite des Platzes löste sich Schnee, er rutschte von den Ästen und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf. Danach rieselte es lautlos weiter, die Kristalle schwebten jetzt langsam und schwerelos durch die winterhelle Luft und drehten sich glitzernd im Tageslicht. Maria spürte die eisige Kälte auf ihrem heißen Gesicht und in ihrer Lunge, und langsam, ganz langsam wurde ihr bewusst, was sie soeben gehört hatte. Sie fragtesich, warum gerade sie es erfahren musste. Warum die Muttergottes nicht mit Marthe gesprochen hatte, mit Esmeralda oder mit einer der frommen Würzburger Frauen in den vorderen Kirchenbänken. Wenn es überhaupt die heilige Jungfrau gewesen war, die sie gesehen hatte.
Sie horchte in sich hinein. Hatte sie wirklich gerade eben eine Marienerscheinung erlebt? Dann müsste sie doch jetzt außer sich sein vor Ehrfurcht. In Ekstase, wie die heilige Bernadette von Lourdes, von der man erzählte, dass sie nach ihren Visionen wie auf Wolken geschwebt sei.
Aber Maria schwebte nicht. Ihre Füße standen fest und sicher auf der hart gefrorenen Erde, ihr Herz schlug gleichmäßig. Ihre Hände waren kalt.
Sie ging alleine die vielen Stufen des Kreuzwegs hinunter und dann den Feldweg über die Wiese zurück zum Lagerplatz. Die Fahne des Lagerfeuers stieg weiß und kerzengerade in den blauen Winterhimmel. Drei, vier Leute standen darum herum, Madame Argent war nicht darunter. Sie war vermutlich im Zelt, dachte Maria, und wenn sie jetzt zu ihr ginge, würde die Wahrsagerin fragen, warum sie
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