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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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früher als die anderen zurückgekommen war. Maria wollte sie nicht anlügen, aber sie konnte ihr auch nicht die Wahrheit sagen, also ging sie in die andere Richtung, am Feuer vorbei zu den Käfigen. Die Eule starrte sie aus müden runden Augen an. Der Waschbär schlief. Der Käfig der Wildkatze war leer, weil sie vor kurzem gestorben war. Der kleine Schneefuchs lag ganz dicht am Gitter, seine glänzende schwarze Schnauze ragte sogar ein winziges Stück nach draußen, ins Freie. Seine großen Ohren drehten sich über seinem Kopf, nach links und nach rechts, als ob sie Geräusche empfingen, von denen niemand sonst etwas ahnte.
    Maria begann zu weinen.
     
    Abends lag sie in der Dunkelheit und Kälte des Zeltes und konnte nicht einschlafen. Sie versuchte, sich das Gesicht vorzustellen, das sie unter der Kuppel der Kapelle gesehen hatte, aber es gelang ihr nicht mehr. Sie sah nur das gemalte Madonnenantlitzin seiner blauäugigen Makellosigkeit vor sich, das die andere Erinnerung wie ein Schleier überdeckte. Dann wanderten ihre Gedanken zu Madame Argent, die weniger als einen Meter von ihr entfernt lag und schlief. Wie wenig sie doch über sie wusste, im Grunde gar nichts, nicht einmal ihren richtigen Namen. Und doch so viel.
    »Was ist heute Morgen geschehen?«, hörte sie auf einmal die Stimme der Wahrsagerin. Sie klang so wach und ruhig. Also hatte sie ebenfalls nicht geschlafen.
    »Heute Morgen?«, wiederholte Maria dümmlich.
    Madame Argent seufzte. »Ich bin müde. Lass uns nicht lange darum herumreden. Sag mir, was passiert ist, ich finde es ohnehin heraus.«
    »Mir ist die Muttergottes erschienen«, sagte Maria und erschrak über ihre eigenen Worte. Wie verrückt sich das anhörte! Wie eingebildet!
    Madame Argent sagte nichts. »Was hat sie dir mitgeteilt?«, fragte sie schließlich.
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, sagte Maria. Ihr Gesicht war plötzlich heiß und nass; auch ihre Ohren und ihre Haare auf dem Kopfkissen, obwohl sie gar nicht bemerkt hatte, dass sie begonnen hatte zu weinen.
    »Hat es mit mir zu tun?«, fragte Madame Argent.
    Maria nickte, doch sie antwortete nicht. Sie gab keinen Ton von sich, aber sie war sich sicher, dass Madame Argent wusste, dass sie weinte, so wie sie immer alles wusste.
    »Ach, Maria«, sagte die Wahrsagerin nach einer Weile, und ihre Stimme hörte sich dabei an, als ob sie lächelte. »Ich weiß es doch schon lange. Die Nachricht war für dich bestimmt, nicht für mich. Ich hätte es dir gerne vorenthalten, aber wer weiß, vielleicht ist es besser so. Jetzt weißt du es also auch.«
    »Sag den anderen nicht, was du erfahren hast«, meinte sie dann. »Und sag ihnen um Himmels willen auch nicht, dass du die Gottesmutter gesehen hast. Sie machen ein großes Geschrei darum und rennen gleich zum Pfarrer, und wer weiß, am Ende stecken sie dich in ein Irrenhaus oder ins Kloster.«
    Maria wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Die Haut auf ihren Wangen und auf ihrem Kinn war wund und aufgesprungen und brannte.
    »Wann wird es geschehen?«, fragte sie leise.
    »Bald«, sagte Madame Argent.

Drittes Kapitel
    I.
    Gudrun hatte sich die Haare abschneiden lassen. Sie trug sie jetzt kinnlang in einer leichten Wasserwelle, dadurch wirkte sie nicht mehr wie eine griechische Göttin, sondern wie ein junger Bursche, obwohl sie sich die Lippen dunkelrot geschminkt hatte. »Du solltest dich auch von dem alten Zopf trennen«, sagte sie zu Mira, nachdem diese die neue Frisur bewundert hatte. »Wir leben im Jahr 1926, nicht im Mittelalter, falls dir das entgangen sein sollte.«
    »Ach was«, sagte Mira achselzuckend. Sie tastete vorsichtig mit den flachen Händen über ihre Hochsteckfrisur. »Ich bin nicht der Typ für kurzes Haar.« Es war ja nicht damit getan, dass man sich die Haare abschnitt. Man brauchte dann auch die entsprechende Kleidung. Kurze, lose Kleider mit einer tiefen Gürtellinie, wie Gudrun sie jetzt trug, und schmale Glockenhüte, lange, glitzernde Halsketten. »Was kümmert es mich, wenn ich zurückbleibe.« Sie lächelte, weil sie nicht zeigen wollte, dass ihr Gudruns Bemerkung einen Stich versetzt hatte.
    »Es war doch nur Spaß.« Gudrun lachte und legte ihren Arm um Miras Schulter. Sie hatte ein neues Parfüm, das intensiv nach Moschus und Zitrone roch. Mira unterdrückte ein Husten.
    »Wie viele Gäste erwartest du eigentlich?«, fragte sie, während sie sich vorsichtig aus der Umarmung löste.
    »An die hundert.«
    Mira warf Gudrun einen unsicheren Blick zu.

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