Zitronen im Mondschein
und hob die Hand, als grüßte sie sie über eine große Entfernung hinweg. Sie nickte und bewegte dabei die Lippen, aber Maria konnte nicht verstehen, was sie sagte.
»Was?«, rief sie.
Madame Argent legte ihren Finger auf die Lippen. Maria spürte, wie ihr auf einmal furchtbar schwindlig wurde und gleichzeitig übel, und dann wurde sie ohnmächtig.
Mirko, der Zwerg, war bei ihr, als sie wieder aufwachte. Sie lag auf der kleinen Pritsche hinter dem Wahrsagertisch. Er legte ihr ein nasses Handtuch auf die Stirn, aber als sie die Augen aufschlug, nahm er es wieder weg.
»Was ist geschehen?«, fragte sie atemlos und blickte sich um, ob Wunder noch irgendwo war. Sie sah jedoch nur das leere Zelt, das auf und ab schaukelte wie ein Schiff auf einem stürmischen Meer. Sie ließ den Kopf zurück aufs Kissen sinken. Das Schaukeln wurde sanfter, dann hörte es auf. Wo ist Wunder? fragte sie sich. Ist er einfach weggelaufen, als ich die Besinnung verloren habe?
»Ich habe ihn weggeschickt«, sagte Mirko, als hätte sie den Gedanken laut ausgesprochen.
»Ich habe ihm die Zukunft vorausgesagt«, erklärte Maria.Der Zwerg nickte, als wäre es die normalste Sache der Welt, dass sie einen fremden Burschen mitten in der Nacht mit in ihr Zelt nahm, um ihm die Zukunft zu prophezeien.
»Madame Argent war hier«, sagte Maria. »Sie saß neben ihm.«
Mirko nickte wieder. Vielleicht hält er mich für verrückt, dachte Maria.
»Sie war wirklich hier, ich habe sie genau gesehen.«
»Ich glaube dir«, meinte er ruhig.
»Aber warum ist sie mir erschienen? Was will sie von mir? Was soll ich tun?«
»Hat sie es dir nicht gesagt?«
»Nichts. Sie hat gesprochen, aber ich habe sie nicht verstanden.«
Mirko drückte das nasse Handtuch über einer Waschschüssel aus. Der Wasserfaden glitzerte im Schein der Windlichter wie flüssiges Gold.
»Hab keine Angst«, sagte er ruhig. »Du wirst es erfahren. Sie wird wiederkommen.«
»Und wenn sie nicht kommt?«
»Sie wird wiederkommen.«
Danach brachte er sie in ihr eigenes Zelt, und sie fiel in einen unruhigen, fiebrigen Schlaf. Irgendwann wachte sie auf, weil sie eine Hand auf ihrem Gesicht spürte. »Madame Argent!« Von einer Sekunde zur anderen saß sie aufrecht im Bett, aber es war nicht Madame Argent, es war Ludwig Wunder.
»Was willst du hier? Hast du den Verstand verloren?«, fuhr sie ihn an.
»Schsch! Sei doch leise. Es muss doch keiner wissen, dass ich hier bin, und ich gehe auch gleich wieder. Sag mir nur, was du gesehen hast.«
»Was ich gesehen … Nichts, gar nichts. Ich hatte nicht genug gegessen, und da ist mir schwindlig geworden, das passiert manchmal …«
»Unsinn!«, unterbrach er sie. »Du hast etwas gesehen und mit jemanden gesprochen, und ich will wissen, was es war.«
»Nichts, wenn ich es dir doch sage.«
»Es war mein Tod. Du hast meinen Tod gesehen«, flüsterte Wunder. In der Dunkelheit des Zeltes sah sie sein Gesicht nur als hellen Schemen.
»Nein«, sagte sie. »Geh jetzt!« Ja, dachte sie gleichzeitig. Du hast recht, ich habe deinen Tod gesehen. Das war es, was Madame Argent ihr sagen wollte. Dass sie Wunder holen würde, dass er jetzt schon zu ihr gehörte und dass Maria sich keine Hoffnungen auf ihn zu machen brauchte.
»Ich glaube dir nicht, Maria«, sagte Wunder. Das weißgraue Oval seines Gesichts bewegte sich nach oben. Er stand auf, er wollte gehen.
»Warte«, flüsterte sie. Der Schemen blieb auf halber Höhe stehen.
»Geh nicht!«, sagte sie. »Bleib bei mir!«
Und er blieb.
Vom ersten Tag an, an dem sie und Ludwig zusammen waren, hatte Maria das Gefühl, dass es nicht lange dauern würde, dass ihr Ludwig Wunder nur für sehr kurze Zeit gehören würde. Auch deshalb konnte sie nicht genug von ihm bekommen. Zuerst verbrachten sie nur die Nächte zusammen, dann auch die Tage. Nach einer Woche brachte er seine Sachen in ihr Zelt und verstaute sie in einer von Madame Argents alten Truhen.
Die Zirkusleute nahmen es einfach so hin. »Wann läuten denn die Hochzeitsglocken?«, fragte die alte Marthe, als sie Wunder morgens aus Marias Zelt kommen sah. Dann lachte sie lautlos in sich hinein, so dass ihr Kropf hin und her wackelte.
»Pass nur auf, dass du vor lauter Liebesglück das Hellsehen nicht verlernst!«, spottete Esmeralda.
Von diesen Sprüchen einmal abgesehen, ließen sie Maria und Ludwig in Ruhe.
Sie lernten sich Tag für Tag besser kennen. Er erzählte ihr von seinem Elternhaus in Stuttgart, sein Vater war Arzt, ein
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