Zitronentagetes
und stürzte um 10:10 Uhr südöstlich von Pittsburgh im Bundesstaat Pennsylvania ab. Es wurde vermutet, dass das Flugzeug Camp David, den Urlaubssitz des Präsidenten, oder vielleicht das Weiße Haus treffen sollte. Wahrscheinlich hatten die Passagiere an Bord durch ihr Eingreifen eine noch schrecklichere Tragödie verhindert.
Josh war einen Tag nach dem Inferno mit seinem Vater und Vicky nach New York gefahren, um nach Spuren von Jaques zu suchen. Rauch und Staub waren verweht, die Zwillingstürme des Handelszentrums, fünf Nebengebäude sowie das Hotel Marriott zerstört.
Marc erinnerte sich daran, wie er hin und wieder im Restaurant Windows on the World im Nordturm mit Geschäftsleuten gegessen hatte. Die Fensterplätze gaben den Blick auf die Freiheitsstatue frei. Nun gab es den Giganten, dieses vierhundertelf Meter hohe Gebäude, nicht mehr.
Josh hatte ihm von einem Gespräch mit einem der Firefighter berichtet. Demnach hatte die Boeing 767, mit einer Spannweite von knapp fünfzig Metern, 38.000 Litern Treibstoff und einer Geschwindigkeit von 760 km/h, eine Schneise der Verwüstung durch die Etagen vierundneunzig bis achtundneunzig des Nordturms gerissen.
Vicky und die Familie taten Marc unendlich leid, doch ebenso fühlte er eine übermächtige Erleichterung, dass niemand, den er liebte, betroffen war. Auch wenn sich zwischen diese Erleichterung Scham mischte, gerade weil er so empfand. Doch er konnte nichts dagegen tun.
»Hallo.« Marc kannte die Stimme, die ihn ansprach, und sah auf.
»Hi Flo. Auch ein bisschen die Beine vertreten?«
»Gewissermaßen.«
Schweigend sah er sie an.
»Kevin hat sich nicht an unsere Absprache gehalten und ist losgezogen, ohne seine Hausaufgaben zu machen. Ich brauchte unbedingt einen kühlen Kopf. Wie geht es Josh? Gibt es schon was Neues?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie geben sich große Mühe, du weißt schon.«
»Es ist nicht leicht, unter so schrecklichen Umständen die Haltung zu bewahren.«
»Ja.«
»Glaubst du, dass Jaques … ich meine …«
»Schwer zu sagen. So viele Leichen sind noch nicht identifiziert und viele sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.« Als sie zusammenzuckte, hielt er inne. »Entschuldige. Ich weiß nicht …«
»Schon gut. Vielleicht darf man das nicht laut aussprechen, aber ich bin heilfroh, dass ich nicht persönlich betroffen bin. Kannst du das verstehen?«
Er nickte und sie wirkte erleichtert. Trotzdem musterte sie ihn weiterhin.
»Mir fällt niemand sonst ein, mit dem ich darüber sprechen kann.«
»Abgesehen davon, alles okay?«
»Das Übliche. Kevin hat Startschwierigkeiten mit dem neuen Schuljahr. Zu allem Überfluss hat er einen neuen – ich zitiere – Scheißlehrer in Mathe und ist fest überzeugt, dass er ohne Schule besser dran wäre.«
»Ganz schön viel Verantwortung für einen allein, hm?«
»Äh, ja. Manchmal habe ich die Nase gestrichen voll. Das kannst du mir glauben.«
Sie schlenderten weiter und drehten eine kleine Runde durch den Ort, bis sie vor dem Apartmenthaus standen.
»Willst du noch mit raufkommen? Auf ein Glas Wein vielleicht?«
Flo zuckte unschlüssig mit den Schultern, folgte ihm dann aber, als er ihr die Tür aufhielt.
»Wow, schick.« Sie drehte sich einmal um ihre Achse und musterte die Inneneinrichtung. »Weiß, edel, teuer. Amy ist wohl nicht da?«
»Nein. Hast du damit etwa ein Problem?«
»Warum sollte ich?« Sie lächelte ihn an.
»Eben.«
»Männer wie du sind harmlos.«
Dass Flo ihn weiterhin ohne Argwohn anlächelte, brachte ihn beinahe aus der Fassung. Harmlos? Warum fühlte es sich an, als wäre er beleidigt? Harmlos. Das Wort hallte in ihm nach wie ein Echo. Wenn ihre Feststellung zutraf, dann lag das höchstens an Frauen wie Floriane Usher. Er musterte sie eingehend. Sie war klein, zierlich, fast dünn. Ihr Gesicht glich eher dem eines Mädchens. Kindlich, das traf es wohl am ehesten. Sie wirkte ein wenig niedlich, wenn man von ihrem fantasievollen Haarschnitt einmal absah. Ihre Naturlocken standen merkwürdig vom Kopf ab, statt ihr Antlitz zu umspielen. Allem Anschein nach nahm sie selbst in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen eine Schere zur Hand und schnippelte drauf los. Er wusste, dass sie an allem sparte. Ein wenig bewunderte er sie dafür, dass sie so ganz und gar uneitel war. Der Eindruck eines niedlichen Kindchens verflüchtigte sich allerdings rasch, wenn sie ernsthaft zu reden anfing. Meistens jedoch plapperte sie fröhlich vor sich hin, mitunter
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