Zitronentagetes
begeben.
Josh konnte gerade noch verhindern, dass sich seine Frau freiwillig dem Ärzteteam als Verstärkung zur Verfügung stellte, um die Opfer zu identifizieren.
Die Helfer im Krisenstab hatten alle Hände voll zu tun. Ihre Arbeit war kaum zu bewältigen, hatte Liz in aller Logik angeführt. Noch immer gab es Leichen ohne Herkunft, ohne einen Namen. Es waren so schrecklich viele. Josh wusste, wie wichtig seiner Frau ihre Arbeit war und diese Aufgabe war es ganz sicher auch. Doch hier griff er ein. Sie war schwanger, und er würde nicht zulassen, dass sie sich solchen Strapazen aussetzte.
»Aber deine Schwester ist ebenfalls schwanger und voller Angst. Sie durchlebt jeden Tag in banger Erwartung. Sie und alle Angehörigen brauchen Gewissheit. Keine Trostfloskeln oder kurze nette Sätze, die sie angeblich aufmuntern sollen. Dabei blickt man ihnen noch nicht mal in die Augen. Ich will doch nur ihr Leiden verkürzen. Verstehst du das nicht?«
»Natürlich. Aber ich kann nicht erlauben, dass du dich und unser ungeborenes Kind solchem emotionalen Stress aussetzt. Du weißt, ich habe dir noch nie einen Wunsch abgeschlagen, aber jetzt …« Hilflos hob er die Schultern und ließ sie kraftlos nach vorn sacken. »Bitte bestehe nicht darauf«, bat er leise. »Ich kann das auf keinen Fall erlauben. Vollkommen unmöglich.«
Sie sah ihn lange unbeweglich an. »Für einen Moment dachte ich daran, wie es wäre, wenn du es bist, der unter all den Betontrümmern verschüttet liegt.«
»Liz!«
Sie wich ihm aus. »Mein Magen sackte ins Bodenlose, der Schmerz muss unvorstellbar sein.« Sie taumelte und kniff ihre Augen zusammen, als spürte sie das Brennen erster Tränen.
Bestürzt über den kummervollen Ausdruck auf ihrem Gesicht zog er sie in die Arme. Ihr Mund öffnete sich, als wollte sie protestieren, doch Josh schloss ihn mit einem langen Kuss. »Siehst du, was ich meine?«, flüsterte er.
»Es ist anders, als du glaubst.«
»Ich weiß.«
»Es war nur eine Vision, mehr nicht. Du stehst dicht neben mir, unverletzt, heil. Du willst nichts anderes als mich beschützen und das fühlt sich sehr gut an.« Josh zog sie fester an sich.
»Die arme Vicky, sie tut mir unsagbar leid.«
Am nächsten Tag schickte Josh Elizabeth gemeinsam mit seinem Vater nach Hause. Vicky war noch nicht bereit dazu und so blieb er bei ihr. Ihr Körper schien nur noch eine leblose Hülle. Die Augen lagen tief in den Höhlen, umgeben von dunklen Schatten. Ihr Gesicht eine Maske an Ausdruckslosigkeit.
Erst zwei Wochen später gelang es ihm, zu seiner Schwester durchzudringen. »Meinst du nicht, dass dein Sohn seine Mommy vermisst? Er kann kaum verstehen, was vor sich geht. Lass uns nach Hause fahren, Vicky. Wir können hier nichts mehr tun. Sie werden uns benachrichtigen, sobald es neue Erkenntnisse gibt. Vicky, hörst du mich ?« Behutsam legte er eine Hand an ihre Wange. Kurz sah er Zorn in ihren Augen aufblitzen, doch dann sah sie ihn an. Ihr Blick war klar.
Sie quittierte seine Worte mit einem traurigen Zucken ihres Mundes.
Inzwischen watete Josh durch ein ganzes Meer von Erschöpfung. Er wusste, seiner Schwester ging es nicht anders.
»Bitte, mein Schatz! Wir können hier nichts mehr tun.« Josh hörte die Verzweiflung in seiner Stimme. Es war ihm zuwider, aber er konnte nichts dagegen tun.
»Deine Stimme ist heiser vor Müdigkeit.« Während sie es sagte, sah sie ihn nicht an. »Natürlich, ich weiß längst, dass du recht hast. Doch es fällt mir so schwer, zu gehen. Mein Schmerz frisst sich allmählich durch den ganzen Körper. Mir ist, als müsste ich mich gleich übergeben.« Hastig wandte sie sich ab und schaffte es gerade noch, ihm nicht die Schuhe zu beschmutzen.
»Herrgott, Kleines.« Er reichte ihr ein Erfrischungstuch, das Elizabeth vorsorglich in seine Jackentasche gepackt hatte.
»Ich habe doch versprochen, ihn nach Hause zu holen.«
Sie hatte es so leise gesagt, dass er überlegte, ob er sie richtig verstanden hatte. Als er begriff, fühlten sich ihre Worte an wie Eiswasser, das an seinem Rückgrat hinunterlief. »Liebes, das werden wir auch. Eines Tages, ganz bestimmt. Ich helfe dir dabei, wir holen ihn heim.«
Vicky sank schluchzend in seine Arme. Er hielt sie fest – lange. Josh brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass auch er weinte.
3. Kapitel
E nde Oktober machte der Herbst seinem Namen alle Ehre. Es regnete an diesem Samstag in Strömen. Das Wetter störte Flo jedoch nicht. Immerhin
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