Zitronentagetes
die in Marcs Verantwortlichkeitsbereich fielen. Letzten Endes hatte er nicht wissen können, dass an einem Tag eine Schulklasse eine Besichtigung der Baustelle mit der Firmenleitung vereinbart hatte. Der durch George beauftragte Handlanger hatte das Baugerüst manipuliert, und es stürzte ein. Gerade, als sich mehrere Kinder und Joshua Tanner darauf befanden. Mittlerweile verstand Jenny die damaligen Beweggründe ihres Mannes, aber seine Handlungsweise war ganz und gar indiskutabel. In diesem Punkt war sie der gleichen Meinung wie Marc.
Ihr Mann hatte das alles hinter ihrem Rücken geplant. Er hatte dafür bezahlt und seine Haftstrafe abgesessen, aber das verlorene Vertrauen ließ sich nicht ohne Weiteres kitten. Keine Frage, dass dies auch das Hauptproblem zwischen Vater und Sohn war. Ihre Bedingung für den Versuch, ihre Ehe zu retten, war ganz klar: Offenheit und Kommunikation.
George hatte sich einverstanden erklärt und er gab sich große Mühe, das musste sie ihm lassen. Damals hatte sie die Eigenmächtigkeiten seiner Generation zugeschrieben. Immerhin war er gut zwanzig Jahre älter als sie. Zum Teil war das die Ursache, dass er vieles mit sich selbst abmachte. Aber wenn sie sich Marc ins Gedächtnis rief, konnte sie ganz klar Parallelen feststellen. Hin und wieder war Schweigen sicherlich eine Tugend. Wenn es jedoch den Charakter von Verschweigen annahm, konnte leicht eine Todsünde daraus werden. Eine Sünde, die jede Beziehung zwischen Mann und Frau tötete. Nach allem, was sie wusste, war auch Georges erste Ehe daran gescheitert, dass zu viel geschwiegen wurde. Zwar hatte sie keine sehr tiefen Einblicke, aber allein die Andeutungen ihres Mannes ließen keinen anderen Schluss zu. Noch immer sagte er kein Wort. Langsam wurde sie ärgerlich.
»Wenn du auf dieser Schiene weitermachen willst, nur zu. Ich sehe dann allerdings keine Zukunft für uns.«
Alarmiert horchte er auf. »Da liegt etwas aufreizend Resolutes in deiner Stimme. Willst du mich in die Enge treiben?«
Sofort rutschte sie zu ihm hinüber und schmiegte sich in seine Arme. Es funktionierte.
»Ich denke über Marc nach.«
Sie wollte ihm keineswegs ins Wort fallen, also ließ sie ihn fortfahren. Es war nur natürlich, dass er sich um seinen Sohn sorgte. Außerdem war sie froh, dass sich Marc nicht mehr so abwehrend verhielt. Vielleicht begriff auch er, dass es gut war, wenn sie einander wieder näherkamen. Es erleichterte sie, dass Marc abgelehnt hatte, bei ihnen in Baltimore zu wohnen. Ihre neu gewonnene Vertrautheit zu George stand noch auf viel zu dünnem Eis. Eine zusätzliche Herausforderung, wie beispielsweise Marcs Einzug, war ihrer Überzeugung nach nicht ratsam. Zugegeben, es klang nicht besonders freundlich, aber das war genau das, was sie empfand. Jenny realisierte noch einen anderen Gedanken, einen, der sie zutiefst beunruhigte. Marc hier zu haben hätte bedeutet, ständig den jungen George vor Augen zu sehen. Was wäre passiert, wenn sie Marc zuerst getroffen hätte? Vater und Sohn sahen einander unglaublich ähnlich. Das Haar des Jüngeren war vielleicht eine Spur blonder und lockiger, aber dies konnte auch täuschen, weil George seines viel kürzer und ordentlich geschnitten trug. Sie rief sich Marcs Gesicht in Erinnerung, wie sie es das letzte Mal gesehen hatte. Unter all den Schichten von Verbitterung, Wut, Verzweiflung, Selbstmitleid und Angst konnte sie noch etwas anderes erahnen: einen warmherzigen, liebevollen, zärtlichen und hilfsbereiten Mann. Eine Mischung, die ihr äußerst gefährlich werden konnte. Es war gut, dass Marc abgelehnt hatte – sehr, sehr gut, überlegte Jenny, bevor sie einschlief.
Flo stellte die Kübel mit den frisch gepflanzten Stiefmütterchen für die Nacht besser ins Haus, bevor sich die armen Dinger noch eine Lungenentzündung holten. »So ist es doch angenehmer, nicht wahr, meine Kleinen?«, sagte sie zu den Pflänzchen. »Ich weiß, ihr könnt mir nicht antworten, weil ihr nur ein paar Knospen habt, aber eine Mutter spürt so etwas.«
»Ist das ein Laptop im Wohnzimmer?«, fragte Kevin.
Aha, er redete also wieder mit ihr. »Ja.«
»Cool. Darf ich ihn anschließen?«
»Kannst du das denn?«
»Natürlich«, prahlte ihr Sohn.
Er konnte es tatsächlich, und ihre Laune wurde immer besser. Ob ihre Pechsträhne jetzt ein für alle Mal zu Ende war? Okay, finanziell würde sie noch eine Weile brauchen, um wieder halbwegs im Lot zu sein. Aber immerhin gab es Hoffnung, nicht wahr?
Weitere Kostenlose Bücher