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Zitronentagetes

Zitronentagetes

Titel: Zitronentagetes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Orlowski
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Demnächst würde sie als Texterin arbeiten. Sie, die kleine graue Maus aus der Dr. Salvador Allende Oberschule in Rathenow-Ost. Wer hätte das gedacht? Ob sie noch heute einen Brief an ihre Eltern in Deutschland schreiben sollte?
    Flo schreckte von einem dumpfen Geräusch auf. Sie spähte aus dem Fenster, konnte aber nichts erkennen. Natürlich, es war stockfinster draußen. Rasch zog sie den alten Bademantel fester und öffnete ihre Wohnungstür. Auf dem Flur traf sie auf Bertha. Also hatte sie sich das Geräusch keineswegs eingebildet. Irgendwie hatte sie das gehofft. Eine Ahnung, angehaucht mit Angst, breitete sich in ihren Eingeweiden aus.
    »Es kam von der Veranda«, hob Bertha an.
    Kurz schoss Floriane der Gedanke an Typen mit zweifelhaften Absichten durch den Kopf. Bertha hatte diesbezüglich offenbar keine Bedenken und öffnete die Tür zur Veranda. Bildete Flo sich ein, dass sich die Atmosphäre unmerklich veränderte? Sie beobachtete eine Bewegung, dann nahm sie eine Gestalt auf dem Boden wahr. In der gleichen Sekunde hörte sie ein Geräusch, eine Mischung aus Stöhnen und Wimmern. Ihre Füße waren taub vor Angst. Geistesgegenwärtig schaltete Bertha das Außenlicht ein. »Das ist …« Sie hielt das letzte Wort in der Schwebe.
    »Marc«, sagten sie beide gleichzeitig.
    Jetzt wandte er den Kopf und Flo erschrak. Blut lief ihm über das Gesicht.
    »Birdie«, nuschelte er.
    Fast sofort war sie bei ihm. »Was ist denn nur passiert?«
    »Hm, keine Ahnung. Auf alle Fälle weiß ich jetzt, nicht jeder, der vögeln kann, kann auch fliegen.«
    Was faselte er da? Flo beugte sich tiefer, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Sie fuhr zurück. Er stank wie eine Hafenkneipe. Wut flammte auf, so heftig, dass sie ihre Fäuste ballte. Flo bezwang den starken Drang, ihm eine runterzuhauen. Sie hatte solche Angst um ihn gehabt, und dabei war er nur sturzbesoffen. Empört schnappte sie nach Luft. »Dieser blöde Kerl«, zischte sie mit einem Nullkommanull-Abstand zwischen ihren Backenzähnen.
    »Wir müssen ihn reinbringen«, beschwichtigte Bertha sie. »Da hilft alles nichts, sonst holt er sich noch den Tod.«
    Soll er doch. Als sie begriff, was sie dachte, verkrampfte sich ihr Magen. Vor Schreck schlug sie sich die flache Hand vor den Mund.
    »Ich oben und du unten«, befahl Bertha. Sie hoben ihn gleichzeitig an und zerrten ihn mehr oder weniger ins Haus. Flo besah ihn sich aufmerksam. Ihr Gesicht spiegelte ihre widerstreitenden Gefühle offenbar wider, denn Bertha meinte trocken: »Derjenige, der von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.«
    Das brachte sie immerhin etwas zur Vernunft, und Flo kniete sich neben Marc. Was sollte sie tun? Bertha wies auf das Telefon. Eine gute Idee, warum war sie nicht selbst darauf gekommen?
    Sie rief Elizabeth an. Hoffentlich weckte sie bei den Tanners nicht das ganze Haus auf. Endlich wurde der Hörer abgenommen. »Das darf doch nicht wahr sein. Ich komme sofort.«
    Flo hörte jetzt auch Joshua schlaftrunken im Hintergrund. »Wo willst du hin?«
    »In die Notaufnahme.«
    »Du bist im Mutterschaftsurlaub«, entrüstete er sich.
    »Es ist eine Ausnahme. Jemand ist böse gestürzt.«
    »Was kannst du dafür? Es muss doch auch mal ohne dich gehen.«
    »Der Patient ist Marc.«
    »Dieser verfluchte Kerl. Was hat er jetzt wieder angestellt?«
    Er klang wahrscheinlich schroffer als beabsichtigt, aber Flo wusste, wie es sich anhörte, wenn jemand Angst hatte. Auch ihr lief ein kalter Schauder über das Rückgrat.
    Liz hatte einfach nur befohlen, ihn in die Notaufnahme zu bringen und genau das hatte sie vor. Hastig zerrte sie die Jeans über ihren Schlafanzug, warf sich den warmen Parka über und stürzte beinahe mit ihren Häschenpantoffeln los. Im letzten Moment fiel es ihr auf und sie ersetzte sie durch Winterstiefel.
    Sie konnte nicht mehr sagen, wie sie und Bertha Marc ins Auto bugsiert hatten. Die Ampel war rot, doch niemand weit und breit zu sehen, so gab sie einfach Gas. So etwas machte sie sonst nie – niemals, dachte sie fluchend und warf einen hastigen Blick auf ihren Beifahrer. Seine linke Gesichtshälfte sah gespenstisch aus. Um ihre Panik niederzukämpfen, tat sie das Erstbeste, was ihr einfiel – sie plapperte. Und dabei erfand sie Grimms Märchen neu. »Hinter den Fichten bei den sieben Nichten …«
    Er gab mit nichts zu erkennen, ob er sie verstanden hatte.
    »Hörst du mich?«, fragte sie viel heftiger als erwartet.
    Offensichtlich hatte er eigenen Gedanken

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