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Zoë

Titel: Zoë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Carmichael
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sah, nahm ich an, dass es nicht allein war. Seine Aufmerksamkeit war geteilt zwischen mir und etwas anderem – einem anderen Tier vermutlich. Eine Eule heulte im Wald – einmal, zweimal und dann ein drittes Mal, undschließlich wandte sich das Reh ab und sprang davon in die Richtung, aus der der Ruf ertönte. Ich rannte hinterher, so schnell ich konnte.
    Schnell verlor ich das Tier aus den Augen und musste mich auf mein Gehör verlassen. So leicht berührte es den Boden, dass kaum das Laub unter den Hufen raschelte, aber ich hörte das andere, schwerere Tier, das es jetzt einholte, und nun hasteten beide zusammen davon, weit vor mir. Ich rannte mit erhobenen Armen, um die Äste aus dem Weg zu schieben, trotzdem erwischten mich immer wieder kleinere Zweige im Gesicht und an den Händen und bremsten mich. Der Wald wurde dichter und dunkler, so tief war ich schon hineingelaufen, nur ganz schwach schimmerte noch das Mondlicht zwischen den Baumkronen hindurch. Das Reh und sein Freund rannten schnell wie der Wind, während ich stolperte und mein Pullover an jedem Ast und jedem Brombeerstrauch hängen blieb.
    Schließlich blieb ich stehen und lauschte, konnte aber nichts mehr hören. Ein paar Minuten lang ging ich noch weiter in die Richtung, in der ich die beiden zuletzt gehört hatte, doch es war zwecklos. Entweder waren sie bereits außer Hörweite, oder sie standen irgendwo ganz still, um ihr Versteck nicht preiszugeben. Solange sie selbst es nicht wollten, war es unmöglich, sie zu finden. Alles, was ich hörte, war der Wind in den Wipfeln der Bäume und das Rauschen des Flusses in der Ferne.
     

5
    Und plötzlich war es Morgen. Ich erwachte in meinem Bett, in den Sachen, die ich bei meiner Flucht getragen hatte und ohne die geringste Ahnung, wie ich zurück ins Haus gekommen war. Ich erinnerte mich noch, dass ich mich in Henrys Wald verlaufen hatte, dass ich mich an den Stamm eines dicken Baums gelehnt hatte, um ein bisschen auszuruhen, und dass ich diesen seltsamen Traum hatte, in dem mein Daddy vorkam. Wenigstens hielt ich ihn dafür, so wie man manchmal in Träumen Dinge einfach ganz sicher weiß. Nahebei stand das weiße Reh, und mein Daddy schien irgendwie sauer seinetwegen, wieso, weiß ich nicht. Beide standen sie lange vor mir, so als überlegten sie, was sie mit mir machen sollten. Dann trug Daddy mich zurück in Henrys Haus und die Treppe hoch in mein Zimmer.
    Ich war vielleicht eine Minute wach, da stand Henry an meinem Bett, und nun war er derjenige, der mir sauer vorkam. Er kenne nicht viele Leute, die angezogen schliefen, sagte er mit triefender Ironie, aber es scheine ihm eine sehr praktische Möglichkeit, morgens Zeit zu sparen. Ob ich vielleicht auch schon abends gefrühstückt hätte, oder solle er mir vielleicht vor der Schule noch einen Brei machen? Vermutlich war er es gewesen, der mich im Wald gefunden und den ganzen Weg zurückgeschleppt hatte.
    Ich blieb bei meinem stummen Protest gegen sein Erziehungsprogramm, erst in der Küche, während ich meinen Haferbrei aß, und dann auf dem Weg zur Sugar Hill City School, wo es im Sekretariat sofort Ärger gab. Nach den Ergebnissen der Tests, die ichin der vergangenen Woche gemacht hatte, war ich im Lesen und Schreiben auf Highschool-Niveau und in Mathe auf dem Niveau der fünften Klasse. Ich hasste Mathe, deshalb war ich erstaunt, dass ich überhaupt so gut abgeschnitten hatte – vermutlich hatte ich das Manny zu verdanken und unseren vielen Stunden bei Pferderennen. Trotz meiner hohen Punktzahl und obwohl die Schulpsychologin der Ansicht gewesen war, ich würde mich in der Sechsten am wohlsten fühlen, bestand die Assistentin des Schulleiters auf der Regel, die in diesem Bezirk gilt und nach der »alle Schüler und Schülerinnen, von einigen sehr seltenen Ausnahmen abgesehen, zusammen mit Kindern und Jugendlichen ihres Alters zu unterrichten sind«. Die total gelangweilt wirkende Frau, die wie ein Roboter redete, zeigte Henry die Vorschrift. Mich sah sie nicht einmal an. Da ich nie eine Schule besucht hätte, sei meine »altersgemäße Sozialisation mangelhaft«, daher würde sie eine Ausnahme in meinem Fall nicht empfehlen. Als Henry sie bat, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken, schickte sie mich auf den Flur. Ich ließ die Tür einen Spalt offen und hörte, wie die Frau sagte: »Solche Testergebnisse sind nicht immer verlässlich. Wenn man bedenkt, dass Zoë quasi wie eine Wilde aufgewachsen ist, dann dürften ihre guten Ergebnisse

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