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Zoë

Titel: Zoë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Carmichael
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alles nichts. Irgendwann gegen halb zwei schlief ich tief und fest.
    Es kam mir vor, als wären gerade mal ein paar Sekunden vergangen, als ich plötzlich senkrecht in meinem Bett saß. Henry musste mich auf der Fensterbank gefunden und ins Bett gebracht haben. Wieso konnte er nicht so sein wie die anderen? Wieso ließ er mich nicht selbst für meine Schulbildung sorgen und tun, was ich wollte?
    Meine Uhr zeigte halb fünf. Draußen war es dunkel, und auch bei Henry brannte endlich kein Licht mehr. Schnell zog ich mir meine alten Sachen an. Ich verabschiedete mich von meinem Zimmer mit einem langen Blick auf das Bücherregal, das Fred mir gebaut hatte, meine neuen Klamotten, die noch in ihren Tüten lagen, und all die Bücher, die ich mir von Henry hatte ausleihen dürfen. Für einen Tag, vielleicht auch zwei, Maximum drei würde ich weglaufen, nur so lange, bis Henry begriffen hatte, dass er nicht der Bestimmer war. Die anderen hatten es auch kapiert.Er würde schon noch zur Vernunft kommen, und dann wäre ich auch wieder da. An der Treppe warf ich noch einen Blick nach oben in den zweiten Stock, dann schlang ich ein Bein übers Geländer und rutschte geräuschlos nach unten.
    Dort drückte ich mich dicht an die Wand und hielt mich an die weniger knarrenden Teile der Dielen, direkt neben den Wandleisten. Ganz leise holte ich einen Küchenstuhl, stellte mich darauf und schmierte die Scharniere der Haustür mit Olivenöl. Zentimeterweise, damit das Öl sich verteilen konnte, zog ich die Tür auf. Dann trat ich lautlos ins Freie.
    Zufrieden mit meinem Erfolg blieb ich erst einmal eine Minute auf der Veranda stehen. Es war Herbst, in den Nächten war es jetzt spürbar kälter, und ich zitterte ein bisschen und vermisste schon mein warmes Bett. Dann ging ich zur Holzkiste und sah, dass beide Näpfe des Katers noch voll waren. Ich spürte ihn auch nicht in der Nähe. Also schlich ich hinüber zum Gestrüpp, in der Hoffnung, ihn dort zu erspähen, aber sein üblicher Schlafplatz war verlassen, das Gras platt gedrückt. Die ganze Woche über waren schwere Lastwagen gekommen und mit Henrys Skulpturen wieder abgefahren, vermutlich hatten sie den Kater vertrieben. Hoffentlich nicht für immer. In letzter Zeit hatte er mich schon ein Stück näher an sich herangelassen. Falls Henry wegen der Schule weiter so stur blieb, konnten der Kater und ich auch zusammen im Wald leben, glücklich, wild, frei.
    Ich folgte einem schmalen Pfad, der zwischen Brombeerbüschen hindurch zu der kleinen Fußgängerbrücke über den Fluss führte. Es war dunkel, doch der Geruch von Zedernholz und dem trockenen Laub unter meinen Füßen führte mich. Auf die Weise erlebte der Kater die Welt, diese Dinge lernte er, um zu leben und sich seinen Weg zu suchen. Er brauchte keine Schule und keine Lehrer, keine anderen Katzen. Er las den Wind, nahm Unterrichtbei den Wäldern, studierte beim Mond und den Sternen und war auf nichts und niemanden angewiesen. Er lebte das Leben, das ich selbst mir wünschte.
    Ich schloss die Augen und atmete meine Freiheit tief ein. Im selben Moment spürte ich eine Bewegung hinter mir. Ich fuhr herum und machte große Augen. Vielleicht fünf Meter entfernt von mir, auf der Brücke über den kleinen Fluss, befand sich ein Geist und starrte mich ebenfalls an. Jedenfalls kam es mir vor wie ein Geist. Nur wenige Schritte entfernt, so nah, dass ich es beinahe berühren konnte, stand ein kleines, schlankes, schneeweißes Reh – allem Anschein nach ein Jährling – mit blassrosa Nase, hellen Augen und aschgrauen Hufen.
    Fantasierte ich, oder spielte das Mondlicht mir einen Streich? Es war spät geworden, und viel geschlafen hatte ich auch nicht. Doch das Reh blieb, wo es war, und betrachtete mich, als hätte es ebenfalls eine Vision, eine nicht weniger seltsame als ich. Vielleicht war es der Geist eines Menschen, dachte ich, der umherwandernde Schatten einer Seele, die keine Ruhe fand. Lester hatte mir manchmal Gespenstergeschichten erzählt, von ruhelosen Toten, die ständig umherzogen, Untote nannte er sie. Ich hatte seine Gruselgeschichten immer toll gefunden. Aber kaum hatte ich das gedacht, schüttelte das bleiche Wesen den Kopf, so als hätte es meine Gedanken gehört. Dann stampfte es auf, vier kräftige Hufe trommelten auf das dicke Holz der Brückenplanken. Schließlich hob das Reh die rosa Nase und nahm meine Witterung auf.
    Es schien eher neugierig als ängstlich, und da es immer wieder über die Schulter nach hinten

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