Zoë
teils Sonnenbräune sein mochten. Das matte schwarze Haar, das im Nacken von einem Stück Leder zusammengehalten wurde, hing ihm in wirren Büscheln tief auf den Rücken. Er trug völlig abgewetzte Arbeitsstiefel, einen mottenzerfressenen braunen Pullover und einen weiten grünen Overall, der dreckiger war als Henrys Arbeitskleidung in ihrem schlimmsten Zustand. Eine braune Leinentasche lag am Boden, wo er sie hingeworfen hatte, um das Reh besser festhalten zu können. Oben ragte etwas heraus, das aussah wie der obere Teil eines gespannten Bogens, aber sicher war ich mir nicht.
Ich starrte ihm ins Gesicht und sah extreme Angst und Schrecken, und dazu ein solches Gewirr anderer Gefühle, dass mir der Kopf davon wehtat. Da wusste ich auf einmal, was ich jedes Malim Wald gespürt hatte, wenn ich das weiße Reh gesehen hatte. Es war gar kein Tier gewesen, sondern ein Junge. Vielleicht ein paar Jahre älter als ich.
Er blickte entsetzt über meine Schulter hinweg. Ich fuhr herum und sah, wie der erste Jäger sein Gewehr auf uns alle drei richtete und dabei seinen Freunden zurief, sie sollten sich beeilen. Ein schneller Blick zurück zu dem Jungen zeigte mir, dass sein Gesichtsausdruck plötzlich von ängstlich zu wütend wechselte. Mit aller Kraft versuchte er weiter, den Körper des kleinen Rehs mit seinem eigenen zu schützen. Beim Versuch, über den Zaun zu springen, hatte sich das Tier an einem Metalldorn verletzt, und ein heller Blutfleck breitete sich auf der Innenseite eines der blassrosa Schenkel aus. Es war außer sich vor Angst, und obwohl der Junge es so fest umklammerte, schaffte das Tier in seinem verzweifelten Wunsch wegzukommen es doch, den Jungen mal hierhin, mal dorthin zu zerren. Der Jäger legte an. Dass Hindernisse im Weg waren, schien ihm völlig egal. Er grinste breit, beim Anblick seiner Beute troff ihm schon der Speichel aus dem Mundwinkel.
»Aus dem Weg mit euch!«, rief er uns zu, als seine Jägerfreunde neben ihm standen.
»Nein!«, brüllte der Junge, und seine Stimme klang tief und zornig wie Löwengebrüll.
Der Junge und das Reh befanden sich hinter einem Grabstein, der ihnen von den Knien abwärts Schutz bot. Ich baute mich zwischen dem Jäger und dem Rücken des Jungen auf, dann hob ich die Arme über den Kopf und winkte hektisch, um so das größtmögliche Ziel abzugeben.
»Zoë! Um Himmels willen, was machst du da?«, donnerte Henrys Stimme von oben.
Henry kam die Böschung herunter auf uns zu, halb rannte,halb rutschte er. Die anderen reihten sich oben auf: eine nach Luft schnappende Maud Booker, die ihr Gewehr auf den Jäger richtete, der auf uns zielte; daneben der Sheriff, der Hilfssheriff, Fred, Franklin und Helen. Von hinten kamen langsam Bessie und der Padre heran, die sich beide schwer auf Harlan stützten. Harlan aber brüllte mir zu: »Gut so, Zoë! Zeig’s den Kerlen, Schätzchen!«
Nie zuvor hatte ich solche Angst gehabt. Ray hatte mir zwar oft genug zu verstehen gegeben, dass Jäger überzeugt seien, die Natur und alles, was sich darin bewegt, gehöre ihnen, aber wirklich geglaubt hatte ich es nicht, bis ich den Doppellauf einer Flinte auf mich gerichtet sah. Der Jäger wich nicht von der Stelle, fixierte uns durch sein Visier, doch als er merkte, wie immer mehr Augenzeugen näher kamen, verließ ihn seine Sicherheit doch spürbar. Nervös sah er zu Maud und ihrem Gewehr hinüber, dann zu seinen Jagdkumpeln, die jetzt ein Stück abseits standen, hinter den anderen, und schließlich zum Sheriff, der sein Halfter aufgeknöpft und die Finger am Griff seiner Pistole hatte und jetzt laut und deutlich brüllte: »Keiner rührt sich von der Stelle!«
Alle gehorchten. Alle außer Henry.
Der taumelte den Abhang herunter wie ein Bär im Angriff. Die Panik des Rehs hinter mir spitzte sich zu, je näher Henry kam, und der Junge konnte es kaum noch halten.
»Bleib stehen, Onkel Henry, bitte!«, schrie ich.
Er tat es tatsächlich, was ich ihm nie vergessen werde, doch dabei sah er so wütend aus, als würde er im nächsten Moment Feuer spucken.
»Zoë«, sagte er laut und mit der zornigsten Miene, die ich je an ihm gesehen hatte. »Ich will, dass du herkommst. Und zwar jetzt .«
»Ich kann nicht, Onkel Henry.«
»Ich diskutiere nicht mit dir«, sagte Henry entschieden.
»Es tut mir leid, Onkel Henry«, brüllte ich zurück. »Schick mich meinetwegen zurück ins Krankenhaus oder sonst wohin, es ist mir egal. Aber ich rühr mich nicht von der Stelle.«
Fred schüttelte
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