Zoë
entgeistert den Kopf und murmelte irgendetwas Unhörbares, aber Henry stand bloß da und starrte mich an, so als wäre er zu Gefühlen wie Verzweiflung oder Wut schon gar nicht mehr fähig. Schließlich glitt ein resignierter Blick über sein Gesicht, und dann tat er etwas, was mich beeindrucken wird, solange ich lebe. Er kam seitlich den Abhang herunter, ganz langsam, bis er vielleicht drei Meter vor mir stand, direkt zwischen mir und dem Gewehr des Jägers.
Dann drehte er sich um, sodass er dem Jäger den Rücken zuwandte und mir ins Gesicht sah. Er ließ mich nicht aus den Augen. Sein Blick war nicht böse und auch nicht erregt. Aber todernst, das ja. Dann drehte er sich wieder um, sodass wir den Jäger ansahen – wir beide.
Es war die längste Minute meines Lebens, als wir so dastanden, während der Jäger uns ins Visier seines Gewehrs nahm. Henry stand eisern da und starrte zurück. Ich schaute immer wieder hinter mich. Das Reh hatte vor Angst die Augen weit aufgerissen, es wollte nur flüchten vor all den Jägern und bellenden Hunden – und vor uns. Auch vor dem Jungen. Kein Mensch regte sich, alle beobachteten nur Henry und mich und den Jäger. Die Zeit dehnte sich endlos, und selbst die Vögel schienen den Atem anzuhalten.
Endlich ließ der Jäger Schultern und Gewehr sinken. Er schaute zu Boden und ließ sich ohne Weiteres die Waffe aus der Hand nehmen, als Sheriff Bean zu ihm kam.
Dann wandte sich der Sheriff an alle: »Mein Erntedankessen steht in diesem Moment auf Mrs Beans vielgerühmtem Esstisch und wird kalt.« Dann wandte er sich an den Jäger: »Curtis, du und deine Freunde, ihr gebt jetzt sämtliche Waffen dem Hilfssheriff.Soweit jeder von euch eine gültige Jagderlaubnis vorweisen kann, dürft ihr sie euch gleich morgen früh im Büro des Sheriffs abholen. Alle, die nicht bei Dr. Royster zum Essen eingeladen sind, gehen jetzt bitte nach Hause, um mit Verwandten und Freunden Erntedank zu feiern.«
»Die Frau da war mit dem Gewehr hinter uns her!«, rief einer der Jäger laut. »Dabei waren wir nicht mal auf ihrem Grundstück. Oben am Lenter’s Creek waren wir und –«
»Also auf meinem markierten Gelände«, unterbrach ihn Fred.
»Nein, Lenter’s Creek war das nicht«, bellte ein anderer der Jäger. »Das war Big Woods.«
»Eigentum der Kirche«, rief der Padre.
»Wartet, bis wir die Sache dem Bürgermeister melden«, sagte Curtis und zeigte auf mich. »Das Mädchen da hat auf den Sohn des Bürgermeisters geschossen. Ich fordere die ausgesetzte Belohnung, hier und jetzt.«
Der Sheriff seufzte. »Wenn du den Herrn Bürgermeister anrufst, dann richte ihm aus, dass ich eine gründliche Untersuchung sämtlicher Vorfälle in Angriff nehmen werde, und zwar ohne Rücksicht auf das zarte Alter oder unbescholtene Vorleben der Betroffenen. Ich rate also allen Anwesenden, sich gut zu überlegen, was sie zu sagen haben. Das gilt auch für den Bürgermeister, seinen Sohn und den Neffen, sagt ihnen das. Gleich am Montag fange ich mit den Befragungen an, und dieses Mal wird jeder, der lügt oder Tatsachen verschweigt, wegen Behinderung der Justiz belangt werden. Das gilt auch für elfjährige Hitzköpfe, die eindeutig zu viele Informationen für sich behalten haben.« Dieser letzte Teil war nun direkt an mich gerichtet.
Dann wandte er sich an den Jungen. »Und nun zu dir, junger Mann: Ich erwarte, dass du Namen und Anschrift hinterlässt.«
Einen Augenblick lang rührte sich niemand.
»So, und nun bewegt euch, los!«, schimpfte der Sheriff. »Bevor ich die ganze Bagage einsperren lasse – wegen unerlaubten Betretens von privatem Gelände, grober Fahrlässigkeit, Ruinierens meines Truthahnessens und was sonst noch angefallen ist.«
Alle folgten den Anweisungen des Sheriffs. Selbst Maud legte widerwillig ihr Jagdgewehr zu der wachsenden Waffensammlung des Hilfssheriffs. Henry stieg die Böschung wieder hinauf, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Ich drehte mich zu dem Jungen und dem Reh um. Mein Blick wanderte zu dem Bogen, der aus der Leinentasche am Boden hinter der Einzäunung ragte. Bisher schien niemand ihn bemerkt zu haben. Die Sonne ging gerade hinter den Bäumen unter und nahm das Tageslicht mit sich. Als Henry den Abhang wieder herunterkam, lief ich schnell auf ihn zu. Ich wollte dem Jungen Gelegenheit geben, das Reh zu beruhigen und wenn möglich zu verschwinden.
»Wer ist der Junge, Zoë?«, fragte Henry als Erstes. Er drehte mich einmal ganz herum, um zu prüfen, ob mit mir alles
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