Zoë
in Ordnung war. Ich drehte mich, so langsam ich konnte.
»Das wüsste ich auch liebend gern«, sagte ich. »Den hab ich heute zum ersten Mal gesehen.«
Henry schwieg und betrachtete mich nachdenklich, so als versuchte er zu entscheiden, ob er mir glauben sollte oder nicht. »Nach dem Essen«, sagte er, »unterhalten wir zwei uns.«
In dem Moment hörte ich den Ruf einer einsamen Eule hinter mir und wandte mich um. Das Tor stand offen, der Friedhof war verlassen, der Junge und das Reh waren fort.
14
Harlan war zum Saufen regelmäßig in eine Spelunke gegangen, die einem Typen namens Andy gehörte. Es gab da vier oder fünf Sitzecken mit billigen Kunstlederpolstern, und jeden Abend um sechs dimmte Andy das Licht, klipste sich eine schwarze Fliege an, und aus der Kneipe namens Andy’s wurde eine Barmit dem Namen André’s , wo alles einen Dollar mehr kostete. Daran musste ich während des restlichen Erntedankfests denken, denn nach dem, was draußen vorgefallen war, sah ich alle und alles mit anderen Augen.
Vielleicht lag es an den Kerzen, die Helen auf dem »Tisch« angezündet hatte, den Henry zuvor aus drei Sägeböcken und einer langen Sperrholzplatte improvisiert und unter zwei Bettlaken verborgen hatte. Vielleicht waren es auch das buntgemischte Geschirr und Besteck, das Bessie gedeckt hatte – Waisenkinder nannte sie diese Einzelteile, so wie ich eins war. Helen und Bessie spekulierten, wem sie früher einmal gehört haben mochten, und dabei arrangierten sie alles zigmal um, so als wäre es hohe Kunst, was sie da machten. Maud Booker lief schnell nach Hause, um noch einen Satz Silberbesteck zu holen, während Franklin für Tischkarten sorgte, indem er unsere Namen auf kleine Papierschirmchen schrieb, die er in einer Küchenschublade entdeckt hatte. Sogar Herr Kommkomm bekam eines in seinen Napf auf der Veranda gesteckt. Der fertige Tisch war schön wie ein verrückter Quilt und so bunt zusammengewürfelt wie unsere Gesellschaft: feinstes Porzellan stand neben unserem angeschlagenen Alltagsgeschirr,Kristallgläser neben Marmeladegläsern mit Entendekor, Gabeln, Messer und Löffel hatten alle möglichen Griffe, und die spitzengesäumten Stoffservietten, die noch von Bessies Mama stammten, lagen neben den kunterbunten Dreieckstüchern, die Henry im Haushaltswarenladen kaufte.
Alle redeten über das, was geschehen war, und über den Jungen, jeder wollte von den anderen wissen, ob sie ihn kannten oder das weiße Reh schon einmal gesehen hatten. Bessie meinte, von solchen umherstreunenden Kindern gäbe es in Sugar Hill eine ganze Menge, und für sie sähen sie alle gleich aus, so ungern sie das auch sage. Maud meinte, das Tier sähe deutlich jünger als ein Jahr aus, weswegen es wohl auch bisher niemand zu Gesicht bekommen habe. Und der Padre stellte fest, in seiner Kirche sei jedenfalls bislang keiner von beiden aufgetaucht.
Bessie bestand darauf, dass Harlan erst einmal nähere Bekanntschaft mit Waschlappen und Seife machte, bevor er sich zu uns an den Tisch setzte, und scheuchte ihn nach oben. Harlan schien bedrückter, als ich ihn je erlebt hatte, beschämt sah er aus, und seine Augen schienen um Verzeihung zu bitten für Dinge, von denen ich nicht einmal wusste. Von oben hörte ich Wasser laufen, und zwar in der Dusche und der Badewanne gleichzeitig, und Helen warf Harlans alte Kleider den Treppenschacht hinunter. Sie standen fast vor Dreck. Mit spitzen Fingern hob sie jedes der stinkenden Teile auf und trug sie mit ausgestrecktem Arm an der Waschmaschine vorbei direkt hinaus zur Mülltonne. Dann schickte sie Henry nach oben, um etwas zum Anziehen für Harlan zu suchen.
Als Harlan schließlich herunterkam, war er rotgeschrubbt und steckte in einigen von Henrys saubereren Sachen, was heißt, dass sie gewaschen waren und nicht allzu viele Schmierflecken oder Brandlöcher aufwiesen. Mit den noch nassen, aus der Stirn gekämmten Haaren erinnerte er an Andy, nachdem der sich seineFliege angesteckt hatte und zu André mutiert war – zwei Menschen in einer Person, der alte Harlan und die neue, verbesserte Version. Durch die Reinigung schien sich auch seine Stimmung gebessert zu haben. Ich konnte nicht gerade sagen, dass ich mich freute, ihn zu sehen, schließlich kamen mit ihm viele Erinnerungen an Mama zurück, aber seit er mit dem Dreck und dem Gestank auch diese schuldbewusste Miene weitgehend verloren hatte, störte es mich jedenfalls nicht mehr so sehr, dass er da war.
Durchs Fenster erspähte ich
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