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Zoë

Titel: Zoë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Carmichael
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Teil zu sehen, nur die Wange, das Ende einer Augenbraue, eine seiner Koteletten, ein ziemlich krummes Ohr. Sein Anzug schlabberte an ihm und sah auch ziemlich altmodisch aus, ganz wie die Sonderangebote aus den Billigläden, wo Mamas Freunde üblicherweise einkauften. Die Frau streckte die linke Hand nach dem Mann aus, doch der reckte sich auf Zehenspitzen und drehte sich weg von ihr. Aufgeblasen sah er aus, aufgeblasen und leicht, wie ein Ballon in Menschengröße, der jeden Moment davonfliegt. Jedem, der seinen Verstand beisammen hatte, hätte ein einziger Blick genügt, um zu sehen, dass dieser Typ keiner war, der bleibt, sondern einer, der, wo immer er hinkommt, als Erstes schaut, wie er wieder abhauen kann.
    Das Beste daran, dass ich meinen Daddy nicht kannte, war lange Zeit dies gewesen: dass ich ihn mir vorstellen konnte, wie es mir gefiel. Ich konnte ihn mir lustig vorstellen, gutaussehend oder liebevoll. In meinen Träumen konnte er der Typ Mann sein, der sein kleines Mädchen irgendwo im dunklen Wald wiederfindet und nach Hause trägt. Ich konnte mir einbilden, dass nur etwas ganz, ganz Wichtiges ihn davon abhielt, mich abends ins Bett zu bringen und gut zuzudecken oder mich zu pflegen, wenn ich krank war, und dass er schlaflose Nächte hatte bei dem Gedanken an all das, was ihm entging, weil er nicht bei mir war. Klar, das warbescheuert, wo doch alle Anzeichen dagegensprachen, trotzdem hatte ich diese Träume gehabt. Bis jetzt.
    Viermal musste ich die Worte lesen, bevor ich wirklich begriff, was sie bedeuteten, und danach noch zweimal, bis ich mir ganz sicher war – obwohl das, was ich da las, eigentlich absolut einleuchtend war, als ich darüber nachdachte. Ich sah zu Henry auf, der das Foto wieder umdrehte, um zum ersten Mal das Gesicht seines Bruders Owen zu betrachten, während ich zum ersten Mal meinen richtigen Vater ansah, meinen und den meines Bruders, meines Bruders Wil, der in diesem Moment in die Fußstapfen unseres Vaters trat, indem er die Flucht ergriff. Henry legte mir den Arm um die Schulter und zog mich an sich, und auch ich schlang beide Arme um ihn und drückte mich ganz fest an ihn.
    Mr und Mrs Owen Royster , stand da in der zierlichen Handschrift der Frau, an deren Hochzeitstag .

 
    Vor Sonnenaufgang verließ der Junge das Haus. Er und der Kater sahen einander an – der Junge blieb ein Weilchen auf der Veranda stehen, und so fiel dem Kater zum ersten Mal auf, wie sehr der Junge dem Mann ähnelte.
    Der Junge hatte keine Eile. Irgendetwas Einsames, Verlorenes war um ihn, und als er den Weg zur Hütte einschlug, folgte der Kater ihm. Oben angekommen, ging der Junge zu den Hartriegelsträuchern, wo seine Mutter begraben war, und blieb dort eine Zeitlang stehen. Anschließend rollte er die zweirädrige Maschine von der Veranda und kippte eine beißend riechende Flüssigkeit in ihren Bauch. Er stieg auf, warf kurz die laut knatternde Maschine an und brachte sie wieder zum Schweigen. Er schob sie leise durch den Wald, zurück zum Haus des Mannes. Er blickte zum Fenster des Mädchens hoch, dann nickte er dem Kater noch einmal zu und schob die Maschine die dunkle Einfahrt hinunter.
    Der Aufbruch des Jungen irritierte den Kater, selbst die Bäume wurden unruhig. Es würde noch Stunden dauern, bis das Mädchen aufstand. So zog der Kater los, am Steingarten vorbei, zum Haus mit dem Turm, um Ratten zu jagen.
    Als er dort ankam, hörte er aus dem Gebäude fürchterlichen Lärm. Helles Licht strömte aus den hohen Fenstern in den nahegelegenen Hof. Hinter den Fenstern stürzten schwere Gegenstände um, Glas und Ton zerbrach, Metall klirrte und schepperte. Was immer da drinnen eingesperrt war, raste offensichtlich von einem Ende des Gebäudes zum anderen, gerade noch wütete es vorn,dann galoppierte es nach hinten, um gleich darauf in den Turm hochzusteigen, so als wollte es fliegen lernen.
    Im Morgengrauen fuhr ein Auto vor. Der Helfer des Mannes führte den alten Mann mit dem Stock zum bogenförmigen Eingang des Gebäudes. Sie schlossen die Türen auf und öffneten sie. Im selben Moment stürmte mit wildem Blick das weiße Reh heraus, warf beide Männer um und verschwand mit großen Sprüngen zwischen den Bäumen auf der anderen Seite des Geländes.

20
    Henrys Ausstellungseröffnung an Silvester in New York war ein großer Erfolg, selbst nach Lillians Maßstäben. Zuerst war sie sauer, dass es nur »vierzehn legitime Roysters« waren, wie sie sich ausdrückte, denn Henry und ich hatten im

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