Zores
gebackene und leicht mit Mehl angestaubte Semmel förmlich danach schrie, von Bronstein verzehrt zu werden. Er tat einen langen kräftigen Schluck von seinem Ottakringer und griff dann mit der linken Hand zur Semmel, während seine rechte die Gabel aufnahm.
Der nächste Gedanke, den Bronstein fasste, kreiste um die Vergänglichkeit der Dinge. Es war doch erstaunlich, wie schnell man eine derart große Portion vertilgen konnte. Nicht einmal zehn Minuten hatte Bronstein benötigt, um den Teller vollkommen von jedem Hinweis auf das Gericht, das sich zuvor auf selbigem befunden hatte, zu säubern. Mit den Resten der Semmel hatte er jeden kleinsten Safttropfen aufgesaugt, sodass das Essgeschirr so jungfräulich rein wirkte, als wäre es eben frisch abgewaschen worden.
Doch die philosophischen Betrachtungen währten nicht lange. Der Gedanke musste praktischeren Überlegungen weichen, denn Bronstein verspürte nicht die geringste Lust, sich nach Hause zu begeben, obwohl ihn von seiner Wohnung kaum mehr als ein paar hundert Meter trennten. Nein, zu Hause würde er an einem Tag wie diesem höchstens trübsinnig werden! Er musste sich, solange es ging, ablenken.
„Haben S’ ein Kinoprogramm da?“, erkundigte er sich beim Kellner. Dieser nickte kurz und reichte ihm wenig später die „Reichspost“ vom Tage. Bronstein fand die gesuchte Seite, und sein erster Blick fiel auf das Margaretner Bürgerkino, in dessen unmittelbarer Nähe er ein gutes Jahrzehnt gewohnt hatte. „Oberleutnant Franzl“ wurde dort gegeben, einevolkstümliche Posse mit der süßen Lucie Englisch und der eher hantigen Magda Schneider. Nein, von Uniformen hatte er genug! Außerdem war ihm dieses Lichtspiel ohnehin zu weit entfernt. Wenn, dann wollte er sich in unmittelbarer Nähe von bewegten Bildern berieseln lassen. Seine Augen wanderten die Seite aufwärts zum Programm in den Innenstadtkinos. Am Schottenring wurde immer noch „La Habanera“ gegeben. Eine Südseeschnulze mit vielen Palmen und seichten Melodien. Bronstein hatte den Film vor zwei Monaten gesehen, und damals war der Kontrast zu dem matschig-trüben Wetter in der Wienerstadt wohltuend gewesen. Doch ein zweites Mal verlangte es ihn nicht nach diesem Streifen, auch wenn die Kritik sich ungebrochen vor Begeisterung über die Leistung der Hauptdarstellerin Zarah Leander überschlug.
Blieb das Opern-Kino, keine hundert Meter vom „Smutny“ entfernt. Dort lief „Hoheit flirtet“, eine Produktion aus dem amerikanischen Hollywood. Allein schon die Tatsache, dass der Film nicht aus den Werkstätten des Berliner Propaganda-Rumpelstilzchens stammte, machte ihn für Bronstein sympathisch. Noch dazu hatte er erst unlängst die Telefonistinnen im Präsidium von dem Werk schwärmen hören. Eine kleine Schilehrerin gab in den Schweizer Alpen einem schüchternen Jüngling Unterricht, nicht ahnend, dass es sich bei diesem um einen waschechten Prinzen handelte. Natürlich, so war dem Geplauder der Damen zu entnehmen gewesen, bekam das kleine Bauernmädel am Ende ihren Prinzen, und das vor der malerischen Kulisse der Graubündner Bergwelt. Freilich hatten die Damen vor allem von Tyrone Power geschwärmt, der, wie Bronstein auf diese Weise erfahren hatte, ein Traum von einem Mann sein sollte, der unwiderstehlichste Adonis seit dem seligen Rudolph Valentino. Bronstein aber fandnaturgemäß die weibliche Hauptdarstellerin weitaus interessanter. Sonja Henie, eine Norwegerin, hatte zehn Jahre hindurch alles gewonnen, was man im Eislaufsport gewinnen konnte. Sie war zehnmal Weltmeisterin geworden und hatte sich in drei aufeinanderfolgenden Olympischen Spielen jeweils die Goldmedaille geholt. Bronstein hatte noch lebhaft ihren Auftritt bei den Weltmeisterschaften in Wien vor Augen, als sie im Gegensatz zu ihren Konkurrentinnen in kurzem Röckchen und weißen Schlittschuhen eingelaufen war, während all die anderen Bewerberinnen mit langen Schürzen und klobigem schwarzem Schuhwerk antanzten. Ja, eine seichte Liebesromanze mit glücklichem Ausgang, das war das richtige Programm für einen traurigen Abend. Bronstein winkte den Kellner ein weiteres Mal zu sich, bezahlte seine Rechnung und blickte auf die Uhr. Die Vorführung begann in einer Viertelstunde, und so machte er sich ohne weiteren Aufschub auf den Weg.
Bronstein trat aus dem Kinosaal ins Freie. Der Film war ganz nett gewesen, auch wenn ihn die vielen Massenszenen auf dem Eis eindeutig überfordert hatten. Nun aber war es kurz vor elf Uhr, und
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