Zores
hatte mit seinem 29. Länderspieltor die Hoffnungen der Österreicher am Leben erhalten. Eine Unachtsamkeit der Verteidigung bedeutete das 3:1, der neuerliche Anschlusstreffer durch den unvergleichlichen Karli Sesta kam zu spät, Österreich musste sich mit Rang 4 begnügen. Aber immerhin war Sesta wieder einmal ein Glanzstück gelungen, und an solchen gab es in der Karriere des ausgebildeten Varietésängers bekanntlich keinen Mangel. Unsterblich war der Teplitzer allerdings durch einen Ausspruch im Rahmen einer Audienz beim englischen König geworden, als er diesem attestiert hatte, „ka schlechte Hackn“ zu haben.
Mittlerweile spielte Sesta für die Vienna, und seine Vorliebe für Wein, Weib und Gesang hatte seinen Körperumfang merklich anwachsen lassen. Nicht umsonst wurde er von den Fans mittlerweile der „Blade“ gerufen. Doch Sesta spielte ohnehin keine Länderspiele mehr. Auf ihn brauchte man in Frankreich also nicht zu bauen.
Bis zur Weltmeisterschaft waren es noch drei Monate, aber man konnte dem Artikel deutlich entnehmen, dass die FIFA immer nervöser wurde. Kein Wunder, erst sechs der 16 Mannschaften standen fest: Deutschland, Schweden, Norwegen, Österreich, Italien und Veranstalter Frankreich. Nun las Bronstein, dass Argentinien auf eine Qualifikation verzichtete, wodurch Brasilien kampflos das WM-Ticket in Händen hielt. Stimmten die Informationen des Blattes, dann schien auch Kuba bereits für den Sommer planen zu können, denn alle anderen mittelamerikanischen Mannschaften machten keine Anstalten, überhaupt ein Qualifikationsmatch zu bestreiten. Bronstein hoffte, dass Österreich zu Anfang einen leichten Gegner zugelost bekommen mochte, denn noch so eine Niederlage wie in der Vorwoche bei der Alpinen Ski-WM im schweizerischen Engelberg vermochte er nicht zu verkraften. Dort hatten die rot-weiß-roten Ski-Heroen es geschafft, in keinem einzigen Bewerb eine Medaille zu holen. Eine Flut von vierten und fünften Plätzen war die einzige Ausbeute gewesen, und ein solches Schicksal brauchte sich auf dem grünen Rasen wahrlich nicht zu wiederholen.
Wie die Zeit verging! Da saß er herum und sinnierte über längst vergangene Tage! War das nicht ein Zeichen dafür, dass man alt war? Durch diesen Gedanken war Bronstein endgültig die Zeitungslektüre verleidet. Es interessierte ihn auch nicht, dass in der Schweiz die Grasshoppers aus Zürich das Cupfinalegegen Servette Genf bestreiten würden. Ihn interessierte mit einem Mal überhaupt nichts mehr. Nur noch ein gepflegtes Nachtmahl. Er trank den Rest seines Kaffees, dämpfte die Zigarette aus und signalisierte dem Ober, er wolle zahlen. Dann ging er hinaus in die Nacht, und die eisige Kälte machte ihn frösteln.
Am Michaelerplatz rotteten sich zwei Gruppen zusammen. Die rechts stehende Menge war unschwer als Parteigänger Hitlers zu erkennen. Ein Haufen junger Männer mit Kniebundhosen, weißen Stutzen und genagelten Haferlschuhen. Ihnen gegenüber, direkt beim Einfahrtstor zum Heldenplatz, standen ein paar ältere Semester in abgetragenen Mänteln, deren Kragen sie hochgeschlagen hatten. Bronstein vermutete in ihnen Vertreter der illegalen Arbeiterbewegung. Beide Gruppen feixten sich schweigend an, während in der Mitte des Platzes einige uniformierte Polizisten herumgingen, die sichtlich nicht wussten, wie sie auf die Situation reagieren sollten. Bronstein beschleunigte seinen Schritt und sah zu, dass er unerkannt über den Platz kam.
In der Augustinerstraße kam ihm ein Streifenwagen entgegen, bald darauf ein weiterer. Offenbar hatten die Kollegen Verstärkung angefordert. Bronstein hielt auf die Albertina zu, nahm aber dann spontan davon Abstand, sich in den Augustinerkeller zu begeben. Stattdessen beschloss er, sich beim „Smutny“ ein herzhaftes Fiakergulasch zu gönnen. Gemeinsam mit zwei Seideln Bier würde das seine Nerven wieder einigermaßen ins Lot bringen, dachte er. Eine halbe Stunde später konnte er mit großer Vorfreude seine „Donau“ ausdämpfen, denn vor ihm dampfte nun die bestellte Speise. Aus dem dickflüssigen rotbraunen Saft erhoben sich würfelförmige Fleischstücke, neben denen ein Ehrfurcht gebietend großer Semmelknödel seinenPlatz gefunden hatte. In der Mitte glänzte ein Spiegelei, das von zwei kleinen Frankfurtern flankiert wurde, während am Tellerrand ein aufgefächertes Gewürzgurkerl für einen farblichen Kontrast sorgte. Dazu hatte der Kellner noch einen Brotkorb dazugestellt, aus dem eine goldbraun
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