Zores
seitdem galt er als deutscher Spion in Österreich, der Himmler über jeden Furz, der in Österreich gelassen wurde, umgehend informierte. Der würde es nicht dabei bewenden lassen, Bronstein einfach zu pensionieren. Der würde ihn mit nassen Fetzen aus der Polizei davonjagen. Nein, mehr noch, er würde Bronstein von seinen eigenen Kollegen verhaften lassen.
Aber damit war wenigstens der Würfel gefallen, dachte Bronstein bitter, während er nochmals einen kräftigen Schluck aus der Flasche nahm, um sodann ein schmatzendes Geräusch von sich zu geben, das in einen dumpfen Rülpser überging. Er musste unbedingt abtauchen. Wenn schon nicht ins Ausland, dann zumindest irgendwohin, wo man ihn nicht sofort vermuten würde.
Doch er konnte unmöglich ohne Gepäck verschwinden, denn niemand vermochte zu sagen, wie lange er sich versteckt halten musste. Er stellte die Schnapsflasche ab und zog umständlich seinen Koffer unter dem Bett hervor. Um sich von dieser Anstrengung ein wenig zu erholen, setzte er sich für einen Augenblick an den Bettrand.
Befand er sich auf hoher See? Auf einem Schiff, das in einen schweren Sturm geraten war? Oder rüttelte ein Erdbeben an den Grundfesten seines heimatlichen Gemäuers? Bronstein kam vollkommen verwirrt zu sich und registrierte, dass er noch lebte und zu Hause war. Er war schweißnass, und eine heftige Übelkeit hielt ihn in ihren Klauen. Der Magen krampfte sich zusammen, und erneut hatte Bronstein das Gefühl, sein Bett könnte auch sein Grab werden.
Wie betäubt schwankte Bronstein aus dem Zimmer. Er rang nach Atem. Ihm war schwindlig. Unweigerlich fiel ihm wieder die Nacht auf Donnerstag ein. Ob er eine neue Attacke bekam? Diesmal eine echte? Nein, sagte er sich. Dies war nur die Folge der Nachrichten, die er eben bekommen hatte. Er musste ruhig Blut bewahren. Noch war nichts verloren. Es brauchte nur ein wenig Gelassenheit, um die Dinge genau durchdenken zu können. Bronstein presste die Hand an die Brust und stützte sich mit der anderen am Türstock ab.
„Es zittern die morschen Knochen …“
Laut und drohend klangen die verzerrten Rhythmen der SA-Hymne von der Straße in seine Wohnung. Sie marschierten also immer noch! Wahrscheinlich wusste mittlerweile auch der letzte Dorftrottel im entlegensten Gebirgsdorf darüber Bescheid, dass Schuschnigg einfach so die Waffen gestreckt hatte.
Es klopfte.
Bronstein hielt den Atem an. Suchten sie schon nach ihm? War die Stunde der Abrechnung schneller gekommen, als es der kühnste Alptraum hätte vermuten lassen? Bronstein versuchte, das Licht zu löschen, und kam sich im selben Moment töricht vor. Natürlich wussten sie, dass er zu Hause war. Ein verdunkeltes Zimmer änderte daran nichts mehr.
Abermaliges Klopfen.
Bronstein rang mit sich. Was sollte er tun? Fieberhaft überlegte er, wo sich seine Dienstwaffe befand. Doch wenn sie wirklich kamen, um ihn zu holen, dann würde ihm seine Pistole auch nichts mehr helfen, denn dann standen da vor der Tür sicher nicht nur zwei ahnungslose HJ-ler, sondern fraglos ein ganzer Trupp SA-Leute. Er konnte vielleicht einen oder zwei von denen erwischen, doch dann wäre er zersiebt, und die Geschichte hatte sich.
„David“, zischte eine Stimme, die ihm nur allzu vertraut vorkam, durch die Tür.
„Ich bin’s. Cerny! Mach auf, um Himmels willen.“
Bronstein wollte zur Tür fliegen, sie aufreißen und Cerny anschließend umarmen. Doch seine Beine gehorchten ihm kaum. Mit Gummiknien schlurfte er vorwärts, so, als wäre er in wenigen Augenblicken um Jahrzehnte gealtert. Endlich hatte er die Schnalle erreicht. Umständlich hantierte er an der Sicherungskette herum, bekam sie um ein Haar nicht auf. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, und er keuchte, als grübe er allein einenTunnel durch einen Berg. Nach einer schieren Ewigkeit sprang das Schloss auf.
„David, Menschenskind! Du machst mir Spaß! Weißt du nicht, was los ist?!“
Bronstein beantwortete Cernys vorwurfsvolle Frage mit einem Nicken. Er verspürte das dringende Bedürfnis, sich zu setzen, und hielt sich an der Kommode fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
„David! Du musst weg! Sofort! Die verhaften überall Leute! Ich sage dir, die gehen nach eigenen Listen vor. Und nach der Geschichte mit dem Suchy stehst du sicher auch drauf.“
Bronstein breitete in unendlicher Langsamkeit seine Arme aus: „Wohin soll ich denn?“
Sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht zu verhindern, dass sich seine Augen mit
Weitere Kostenlose Bücher