Zores
sagst. Die Lage ist ernst. Und daher müssen wir reagieren. Und das schnell.“
Nun stand auch die Raczek auf. Sie trat auf Bronstein zu und umarmte ihn. Dann blickte sie ihm direkt in die Augen: „David, ich wünsche dir von ganzem Herzen alles Glück der Welt. Du verdienst es. Schau, dass du gut durchkommst. Und wer weiß, wenn der ganze Spuk vorbei ist, dann schau’n wir, dass wir uns wiedersehen.“
Sein Mund war so trocken, dass Bronstein nichts sagen konnte. So nickte er nur.
„Ich sag dir was“, lachend stupste sie ihn in die Seite. „Wir gehen zum ersten Volksbildungsvortrag in der Urania, nachdem die Nazis Geschichte sind. In Ordnung?! Egal, worum es geht. Treffpunkt dort.“
Bronstein zog gleichfalls die Mundwinkel nach oben: „In Ordnung. Abgemacht!“ Sie drückten sich aneinander, dann riss sich Bronstein los, nickte Johanna noch einmal zu und verließ die Wohnung.
Er ignorierte den Fluch der Jedlicka, die eben das Haustor abgesperrt hatte und es wegen seines Erscheinens noch einmal öffnen musste. Ohne weiter auf die Hausmeisterin zu achten, trat er ins Freie und starrte in den tiefschwarzen Nachthimmel. Am besten, so sagte er sich, war es, wenn er tatsächlich nach Hause ging und seine Sachen packte. Fürs Erste ging er vielleicht in eine Pension aufs Land. Irgendwo in Grenznähe, damit er im Fall des Falles schnell flüchten konnte. Mit der Straßenbahn Richtung Pressburg, das wäre eine Lösung. Da war es dann ein Leichtes, in die Tschechoslowakei auszuweichen, wenn es wirklich hart auf hart kommen sollte. Dieser Gedanke beruhigte ihn einigermaßen, und er lenkte seine Schritte Richtung Innenstadt.
Er hatte kaum die Zweierlinie erreicht, als er merkte, wie sehr ihm der Magen knurrte. Kein Wunder, er hatte seit Mittag nichts mehr gegessen. Aber wo würde er um diese Zeit noch etwas bekommen? Instinktiv bog er am Landesgericht nach rechts ab und hielt auf die Josefstädter Straße zu. Dort gab es das Gasthaus „Zur Stadt Belgrad“, in welchem die Taxifahrer verkehrten. Daher würde es dort auch um halb elf noch etwas zu essen geben. Vor allem konnte man dort vor allfälligen Nazis sicher sein, denn das „Belgrad“ war für seine politisch eher links stehende Klientel bekannt. Im Gegensatz zum gegenüberliegenden Wirtshaus „Zur Stadt Paris“, wo das Kleinbürgertum eher rechten Ideologien anhing. Ein altes Bonmot besagte, die beiden Lokale lägen nicht zufällig auf der linken bzw. rechten Seite der Straße.
Als Bronstein das „Belgrad“ betrat, befanden sich nur ein paar Personen im Schankraum, die um den Radioapparat versammelt waren. Er bestellte schnell ein kleines Gulasch und ein Seidel Bier, dann schloss er sich der Gruppe an. Während er sich eine Zigarette anzündete, fragte er nach den letzten Neuigkeiten. „Sie haben grad g’sagt“, erklärte einer, „um elfe gibt’s eine offizielle Erklärung.“
Na, bis dahin konnte er wenigstens noch sein Gulasch essen. In der Tat legte er eben die Serviette auf den leeren Teller, als das Stundenzeichen erklang und ein Nachrichtensprecher anhob. Der Wirt stellte den Apparat lauter: „Der Bundespräsident hat unter dem Druck der innenpolitischen Lage den Bundesminister Seyß-Inquart mit der Führung des Bundeskanzleramtes betraut.“
Nun war es also wirklich geschehen. Bronstein verschlug es die Sprache. Bis zuletzt hatte er irgendwie gehofft, er würde sich irren, und die Situation würde doch noch eine Wendungzum Guten nehmen. Doch nun wusste er, er hatte sich getäuscht. Eilig zahlte er und sah zu, dass er wieder auf die Straße kam. Jetzt zählte jede Minute. Er hetzte über die breite Straße und lief die Stadiongasse entlang. Als er die Reichsratsstraße überqueren wollte, raste eine schwere Limousine daher, in der Leute in SA-Uniformen saßen. Der Fahrer musste abrupt abbremsen, um Bronstein nicht zu überfahren. Ein SA-Mann kurbelte das Fenster herunter und schrie Bronstein an, er solle sich gefälligst zum Teufel scheren. Dieser Moment genügte Bronstein, um zu erkennen, dass im Fond des Wagens Bürgermeister Schmitz saß. Er trug Handschellen und wirkte einigermaßen ramponiert. Offenbar hatten die Nazis bereits begonnen, ihre politischen Gegner zu verhaften. Unwillkürlich hielt Bronstein den Atem an und sah eilig zu Boden. Doch der SA-ler beachtete ihn nicht weiter und war in der nächsten Sekunde auch schon in Richtung Justizpalast entschwunden.
Bronstein erreichte nun endlich den Ring und wandte sich nach rechts.
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