Zorn: Thriller (German Edition)
Christo diskutiert«, antwortete Ivanova. »Dieser Roman birgt ein ziemlich hohes revolutionäres Potenzial in sich. Aber die Distanz zwischen uns wurde natürlich noch größer, als ich aus Frankreich zurückkehrte, wo Didde auf diese eigentümliche Art und Weise spurlos verschwunden war. Als nach einem halben Jahr die Nachricht von Diddes Tod eintraf, war Badde weg. Er hörte auf zu studieren, und ich weiß nicht, was er danach machte. Wir kannten uns immerhin zehn Jahre, und es war eigenartig, ihn einfach aus meinem Leben verschwinden zu sehen.«
»Und wie haben Sie sich kennengelernt?«
»Damals waren wir noch Kinder, und meine Eltern haben mich gezwungen, zu diesen russischen Immigrantentreffen zu gehen, um mit Leuten ›von zu Hause‹ in Kontakt zu kommen. Badde war gerade nach Schweden gekommen und genauso alt wie ich, ungefähr dreizehn. Als die Sowjetunion im Begriff war auseinanderzubrechen, war er auf eigene Faust zum Moskauer Flughafen gefahren und hatte die erstbeste Maschine genommen. Sie landete in Göteborg. Wir haben einander sofort gefunden. Ich habe ihm Schwedisch beigebracht, und er hat mich gelehrt zu lieben.«
»Wie heißt Badde mit richtigem Namen?«
»Damals hieß er noch Lebedev«, antwortete Ivanova und schaute erneut auf die Uhr. »Aber dann hat er einen schwedisch klingenderen Namen angenommen ...«
»Sie schauen die ganze Zeit auf die Uhr«, unterbrach Kerstin Holm sie. »Jetzt müssen Sie uns erklären, warum Sie Ihre Vorlesung abgebrochen haben und nach Stockholm geflogen sind. Es ist doch offensichtlich, dass Sie heute Abend irgendeine Verabredung haben. Und hoffen, sie wahrnehmen zu können.«
Marina Ivanova starrte sie an. Jegliche Wachsamkeit war wie weggeblasen, ihre Augen waren nun nicht mehr verengt, sondern kugelrund. Es sah aus, als würden ihr die Dinge erst jetzt nach und nach aufgehen. Dinge, die sie schon längst hätte begreifen müssen.
»Mich hat heute jemand angerufen«, sagte sie schließlich. »Heute Mittag. Eine Frau, die irgendwie sonderbar klang. Sie sagte, dass sie die Wahrheit über Diddes Tod kenne. Aber dass ich sie in Stockholm treffen müsse. Heute Abend um dreiundzwanzig Uhr. Sie sagte, dass es sich um brisantes Material handele und die Übergabe unbedingt im Geheimen stattfinden müsse.«
»Klang sie ungefähr so?«, fragte Sara Svenhagen und tippte auf ihr Handy.
Eine Frauenstimme sagte zu Arto Söderstedt: »Es gibt Sie also doch. Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass es Sie gibt, mein unbekannter Polizeikommissar.«
»Ja«, meinte Ivanova. »Diese raue Stimme ...«
»Die offenbar mit einem Stimmverzerrer verändert worden ist. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um einen Mann und nicht um eine Frau.«
Ivanova wirkte inzwischen noch irritierter. Sie fragte: »Sie meinen also, dass es ... Badde gewesen sein könnte?«
»Das wäre durchaus denkbar«, antwortete Kerstin Holm. »Das Treffen ist heute Abend um dreiundzwanzig Uhr, sagten Sie? Und wo?«
»Auf Långholmen«, erklärte Ivanova. »Im ehemaligen Gefängnis. Inzwischen ist es ja ein Hotel.«
»Im ehemaligen Gefängnis auf der alten Gefängnisinsel Långholmen.« Sara Svenhagen nickte. »Verdammt.«
»Und wo genau?«, fragte Kerstin Holm.
»In einem Hotelzimmer«, antwortete Marina Ivanova. »Es ist auf meinen Namen gebucht. Eine ehemalige Gefängniszelle, die in ein Hotelzimmer umgewandelt wurde. Ich soll hineingehen, und sobald ich durchs Fenster das Leuchten einer Taschenlampe draußen im ehemaligen Gefängnishof sehe, soll ich ein gewisses Blinksignal zurücksenden. Zweimal kurz, einmal lang.«
»Und dann werden Sie die Wahrheit über den Tod des ›Roten Didde‹ erfahren?«
»So hat sie es gesagt. Ja, sie ... Sie, er, es? Verdammt, nur nicht Badde. Nicht er.«
»Wenn er es doch sein sollte, müssen Sie wissen, dass er in den vergangenen neun Jahren mindestens neun meinungsbildende Kommunisten ermordet hat«, erklärte Sara Svenhagen schonungslos. »Und Auslöser dafür war, dass er die Leute im Institut für Philosophie angesichts der Anschläge in New York jubeln sah. In dem Moment erkannte er das wahre antihumanistische Gesicht des Kommunismus. Außerdem sah er Ihren Verrat, Ihre Zuneigung zum ›Roten Didde‹. Es war also ein doppelter Verrat. Vielleicht hat er auch eines Ihrer Telefonate mit Didde mitgehört oder heimlich Ihre E-Mails gelesen. Jedenfalls hat er mitbekommen, dass Sie vorhatten, sich mit ihm in Avignon zu verlustieren, nur hundert Kilometer
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