Zorn: Thriller (German Edition)
entfernt von Marseille und der Gefängnisinsel If von Monte Christo. Es war ein passender Ausgangspunkt, nämlich der Ort, an dem auch der Rachefeldzug des Edmond Dantès seinen Anfang nimmt. Mitten in der Nacht lockt er Didier Girault dorthin und ermordet ihn. Es ist der Beginn einer Mordserie auf Gefängnisinseln weltweit. Morde an Kommunisten.«
»Soll Badde etwa eine Art Serienmörder sein?«, rief Ivanova aus. »Das fällt mir ziemlich schwer zu glauben ...«
»Wie verhält es sich denn mit Baddes Verwandtschaft? Wurden Angehörige von ihm vom Sowjetregime verfolgt?«
Marina Ivanova dachte nach. Dann antwortete sie: »Da war etwas mit seinem Großvater ...«
»Mit seinem Deda ? «, fragte Sara Svenhagen.
»Ja«, antwortete Ivanova. »Es war schon merkwürdig, dass Badde ganz allein nach Schweden gekommen war. Mutterseelenallein, mit dreizehn Jahren. Er durfte bleiben, denn die schwedische Asylpolitik sah damals noch etwas anders aus. Aber er war bei seiner Baba und seinem Deda aufgewachsen. Irgendetwas war da mit Dedas Vergangenheit ...«
»Die Sowjetunion brach Ende 1991 zusammen«, erklärte Holm. »Gorbatschow trat am ersten Weihnachtsfeiertag zurück, und formell wurde die Sowjetunion zum 1. Januar 1992 aufgelöst.«
»Ich glaube, dass sein Deda an diesem Tag starb«, sagte Ivanova tief in ihren Erinnerungen versunken. »Ich glaube, Deda starb am selben Tag. Seine Baba war ein halbes Jahr zuvor gestorben oder so, und dann starb Deda ebenfalls.«
»Und was war mit seinem Deda passiert?«, fragte Svenhagen.
»Ich versuche fieberhaft, mich zu erinnern«, antwortete Ivanova. »Deda wurde interniert, als er noch ziemlich klein war. Sie griffen ihn als Schuljungen auf den Straßen von Moskau einfach auf und deportierten ihn. Er war ungefähr zehn Jahre alt. Es war ein großes Projekt mit dem Ziel, die Großstädte der Sowjetunion von störenden Elementen zu reinigen. Ich kenne die Geschichte nicht so genau, aber er landete jedenfalls an einem absolut unwirtlichen Ort. Badde hat es irgendwann einmal erwähnt. Auf einer Hölleninsel.«
»Auf einer Insel? Einer Gefängnisinsel?«
»Ja, so etwas in der Art. Eine kleine einsame Insel. Dort gab es nichts zu essen, denn irgendetwas war schiefgelaufen. Die Gefangenen haben angefangen, sich gegenseitig aufzufressen. Ja, so war es. Sie fraßen seinem Großvater den Arm ab.«
»Sie fraßen ihm den Arm ab?«
»Ja«, antwortete Ivanova. »So war es. Ich glaube sogar, dass Badde erwähnt hat, wie viel der Arm wog. Ich habe allerdings nicht ganz begriffen, warum er das wusste.«
Holm und Svenhagen wechselten rasch einen Blick.
Sie waren auf der richtigen Spur.
»Jetzt ist es 21.45 Uhr«, sagte Kerstin Holm. »Sie müssen unbedingt Ihr Treffen wahrnehmen. Um dreiundzwanzig Uhr auf Långholmen.«
»Eine Sache noch«, meinte Sara Svenhagen. »Sie sagten, dass Badde nach dem Vorfall in der Provence aufgehört hat zu studieren. Dass er verschwand. Sie haben keine Ahnung, wohin er verschwand?«
»Aber er ist doch nur für eine kurze Weile weg gewesen«, rief Marina Ivanova aus. »Er hörte auf zu studieren, aber er kehrte an die Universität Göteborg zurück und erhielt einen Bürojob. Seitdem arbeitet er dort.«
»Oh, verdammt«, rief Kerstin Holm aus. »Badde hieß also Lebedev, als er nach Schweden kam. Doch dann hat er seinen Namen geändert? Das hatten Sie doch gesagt, nicht wahr?«
»Also, der Name Badde war einfach ein alter Witz«, erklärte Marina Ivanova. »Er sah Andreas Baader aus der Baader-Meinhof-Gruppe schlicht und einfach ähnlich, als er jung war. Aber eigentlich hat er einen russischen Vornamen. Viktor.«
»Viktor«, wiederholte Holm und spürte deutlich, dass sie blass wurde. »Und heute heißt er also ...?«
»Viktor Larsson«, antwortete Ivanova. »Er steht am Empfang des Instituts in Göteborg.«
Einzelzelle
Långholmen, Stockholm, 25. Mai
Das Zimmer, das im Hotel Långholmen, dem ehemaligen Gefängnis, in der Tat auf Marina Ivanovas Namen reserviert war, wurde nicht nur »Einzelzelle« genannt, es war auch wirklich eine ehemalige Gefängniszelle. Wenn man sich hingegen im Zimmer befand – hinter der restaurierten Originalzellentür –, erinnerte nicht mehr allzu vieles an frühere Zeiten. Außer, dass einen möglicherweise ein klaustrophobisches Gefühl befiel. Das mit einem Gitter versehene Fenster befand sich ganz oben an der Decke, und das Zimmer war ausgesprochen klein. Im Übrigen war es außerordentlich ansprechend gestaltet,
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