Zorn: Thriller (German Edition)
Teufel?«, fragte Hershey und riss das Lenkrad in einer steilen Kurve herum. Auf der rechten Straßenseite stürzte der Felskamm geradewegs in die Unendlichkeit. Sie überwanden die Serpentinen der Bergstraße in beeindruckendem Tempo.
»Du weißt, was uns jetzt erwartet, oder?«, fragte Hershey und riss erneut das Steuer herum. »Wir waren noch nie zuvor gemeinsam in eine Schießerei verwickelt, Laima.«
»Du fragst dich, ob ich dem gewachsen bin?«, entgegnete Balodis und deutete auf einen noch schmaleren Abzweig nach rechts. Von nun an balancierten sie unablässig am Rande des Abgrunds.
»Nein«, antwortete Hershey. »Nein, das frage ich mich nicht.«
»Gut«, meinte Balodis, »denn das frage ich mich auch nicht.«
Der letzte Abzweig war nicht gerade leicht zu finden. Ein kleiner Kiesweg, über dem Schotter hing eine dünne Staubwolke. Als wäre vor nicht allzu langer Zeit ein Auto dort gefahren.
Balodis verzog das Gesicht und nahm ihre Pistole aus dem Achselhalfter.
Die verfallene Hütte lag direkt an einem bewaldeten Abhang. Sie hatte zwei Türen, von denen eine in den Wald und die andere auf eine Veranda hinausführte.
Beide standen weit offen.
Hershey legte eine Vollbremsung hin, sodass der Wagen quer zum Stehen kam. Sie hatte ihre Waffe bereits gezückt, bevor sie den Fuß von der Bremse nahm. Balodis stürzte hinter ihr her. Beide sprangen aus dem Wagen und duckten sich, die Pistolen auf die Hütte gerichtet, hinter dem Fahrzeug.
Es war kein anderer Wagen zu sehen.
Hershey und Balodis blickten sich mit maximaler Aufmerksamkeit um. Kein Lebenszeichen.
Mit erhobenen Waffen liefen sie auf die Hütte zu. Die weit geöffneten Türen sahen aus wie die aufgerissenen Augen einer Leiche.
Sie gaben einander so perfekt Deckung, als hätten sie nie etwas anderes getan. Immer noch kein Lebenszeichen.
Schließlich standen sie jede an einer Seite der Eingangstür auf der Veranda. Sie warfen einander rasch einen bestätigenden Blick zu, dann stürzte Hershey als Erste in die Hütte. Balodis folgte ihr unmittelbar. Und gab ihr Deckung.
Die Hütte war leer. Es lagen auch nicht zwei Leichen auf dem Boden, wie sie es befürchtet hatten.
Aber die kleine Hütte des Gärtners José war in erbärmlichem Zustand. Keine Schublade saß mehr an ihrem Platz, kein Schrank, der nicht vollständig geleert worden wäre. Es sah aus, als wäre eine extrem aggressive Windhose durch das Haus gefegt.
Was in gewisser Weise auch stimmte.
Plötzlich stand ein Kind neben ihnen.
Es war ein ungefähr zwölfjähriger Junge. Er stand mit einem leeren Becher in der Hand da und starrte mit offenem Mund auf die groteske Unordnung.
»Ich wollte mir ein wenig Olivenöl borgen«, sagte er in einem spanischen Dialekt.
Balodis nagelte Hershey mit ihrem Blick förmlich an die Wand.
Hershey verbarg ihre Waffe schnell hinter dem Rücken und bemühte ihren kleinen Spanischwortschatz: »José ist nicht zu Hause. Weißt du, wo er sein könnte?«
»Nein«, antwortete der Junge. »Oder ...«
»Oder?«
»José hat eine Jagdhütte oben auf dem Berg. Da spiele ich immer.«
»Kannst du sie uns zeigen? Du bekommst dafür auch das hier. Viel besser als Olivenöl.«
Der Junge warf einen begierigen Blick auf den Zwanzigeuroschein.
»Okay«, sagte er, und sie machten sich auf den Weg.
Er bewegte sich wie ein kleines andalusisches Mufflon durch die dichte Vegetation. Miriam Hershey dankte ihrem glücklichen Stern, dass sie sich gegen ihre Salvatore-Ferragamo-Schuhe entschieden und stattdessen ein Paar robuste Nikes angezogen hatte. Sie warf einen Blick zurück auf Laima und musste feststellen, dass sie selbst bedeutend mehr Energie verbrauchte als ihre Kollegin.
Balodis bewegte ihren Oberkörper überhaupt nicht, während ihre Beine sowohl die Steigung als auch die Unebenheiten des Bodens federnd ausglichen. Obwohl sie mehr als Kolleginnen waren, ja seit über einem Jahr enge Freundinnen, waren sie noch nie gemeinsam größeren Prüfungen ausgesetzt gewesen. Doch jetzt sah die ehemalige MI5-Agentin, aus welchem Holz ihre baltische Kollegin geschnitzt war. Wie auch Jorge Chavez es im vergangenen Jahr in einer Bank in Berlin gesehen hatte.
Allmählich näherten sie sich der Kuppe. Erst wurde es noch steiler, dann hatten sie die Kuppe überwunden.
Sie standen am Rand einer Lichtung. An deren Ende in ungefähr dreißig Metern Entfernung lag ein kleiner Schuppen, der mit der Rückseite an einem Felsvorsprung stand. Die Eingangstür war
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