Zorn: Thriller (German Edition)
hat er sich darauf vorbereitet, ebenfalls unterzutauchen, nicht zuletzt, um Ws Rache zu entgehen. Er spielte seiner Umwelt seinen Niedergang vor. Sein Selbstmord sollte für die Polizei nachvollziehbar sein. Scheidung, Alkohol, Workaholic-Symptome, Einsamkeit et cetera.«
»Aber die Leiche?«, fragte Hjelm.
»Zurück zu Charleroi«, entgegnete Söderstedt. »In der Villa war es ziemlich dreckig, überall lag Staub. Außer in einem Raum im Keller, der wie frisch geputzt aussah. Ich glaube, dass dort monatelang ein Mann gewohnt hat, ein sorgfältig ausgewählter Alkoholiker und Penner, ein Mann mit Leberzirrhose, der vermutlich Essen, einen Fernseher, Pornohefte und so viel Sprit, wie er wollte, bekommen hat, unter der Bedingung, sich einer chiroplastischen Operation zu unterziehen. Um Udo Massicotte aufs Haar zu gleichen. In diesem Kellerraum erschuf Massicotte seinen Doppelgänger. Und als der Mann ordentlich betrunken war, erhängte Massicotte ihn. Mithilfe eines kurzen Stricks. Und tauchte unter, um sich irgendwo auf dem Erdball wieder mit seiner Exfrau zu vereinen und von dort aus die Firma, vermutlich geheim und mittels Strohmännern, weiterzubetreiben.«
Erneut wurde es vollkommen still im Raum. Die Zahnräder griffen ineinander, Fäden wurden miteinander verknüpft. Der Gesamteindruck veränderte sich erneut.
Schließlich sagte Hjelm: »Die DNA von Massicottes Leiche wurde niemals überprüft, weil wir alle davon ausgingen, dass es sich um ihn handelte. Wir müssen so schnell wie möglich einen Test durchführen lassen; ich vermute, dass sich seine Leiche noch im Kühlraum befindet. Und dann müssen wir der Polizei auf Fuerteventura wegen seiner Frau Mirella Massicotte auf die Zehen treten. Verdammt, Arto, wie lange hast du darüber gebrütet?«
»Kein bisschen«, antwortete Arto Söderstedt. »Es fiel mir in dem Augenblick ein, als Jutta auf den Gedanken mit der Privatisierung der Sektion kam.«
»Jedenfalls ziemlich clever, sowohl Jutta als auch Arto«, lobte Hjelm. »Was die Informationen, die wir gerade vom Rechtsmediziner aus Paris erhalten haben, hochinteressant macht. Die Tatsache, dass diese Berichte in Pierre Rigaudeaus Mund gefunden wurden, haben uns zu der These geführt, dass W in irgendeiner Form an sie herangekommen sein muss und sie dann dem Verräter Pierre voller Zorn in den Mund gestopft hat. Doch wie sich nun in der Analyse herausgestellt hat, wurde Rigaudeau der Papierball zu einem späteren Zeitpunkt in den Mund geschoben, als sein Gesicht und alle Körperflüssigkeiten inklusive des Speichels bereits tiefgefroren waren. Der Mord fand also davor statt – und da W der Einzige ist, der im Besitz des weiterentwickelten Protobiamids ist, war also er derjenige, der den Mord beging und Rigaudeau in den Gefrierschrank stellte –, aber der Papierball landete erst etwa sechs Stunden danach im Mund des Opfers. Also muss nach W jemand in das Studentenwohnheim in Paris gekommen sein, um Pierre die Dokumente in den tiefgefrorenen Mund zu stecken. Womit wir zu den Berichten zurückkehren. Wen hat Michael Dworzak beauftragt? Und wer hat Rigaudeau die Berichte in den Mund geschoben?«
In der Gruppe wurden diverse Blicke ausgetauscht. Keiner schien eine vernünftige Antwort parat zu haben.
»W ist möglicherweise erst später an die Berichte herangekommen«, sagte Bouhaddi schließlich, »und ist dann im Zorn zu Rigaudeau zurückgekehrt, um sie ihm in die Fresse zu schieben.«
»Das wäre eine Möglichkeit«, stimmte Hjelm zu. »Es kann durchaus so gewesen sein. Aber es scheint nicht gerade sein Stil zu sein, an einen Tatort zurückzukehren. Und wie sollte dieser einsame Jäger an ein Dokument mit der Bezeichnung ›Höchste Geheimhaltungsstufe‹ kommen? Von einem abgeschirmten privaten Sicherheitsunternehmen? Ich glaube es ehrlich gesagt nicht.«
»Du hast also eine alternative Erklärung?«, fragte Söderstedt.
»Ich schlage mich mit diesen Berichten herum, seit ich sie zum ersten Mal gelesen habe«, antwortete Hjelm. »Wir wissen nun, dass in den vergangenen Monaten private Ermittlungen stattgefunden haben. Wenn ich mir die Bezeichnungen anschaue, mit denen jeder Bericht versehen ist, fällt mir zunächst die Auftragsnummer auf, der immer ein ›A‹ vorangestellt ist. Das kann natürlich schlicht und einfach ›Priorität A‹ bedeuten. Aber wenn ich sehe, dass die Nummern, mit denen die Berichte gekennzeichnet sind, stets mit einem CJH eingeleitet werden – wie zum Beispiel
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