Zorn: Thriller (German Edition)
Volkova bekümmert. »Wie er auch damals beim Begräbnis unserer Mutter in Paris nicht erschien. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er fünfzehn und ich siebzehn Jahre alt war. Er ist einfach verschwunden.«
»Und wie haben Sie ihn in Erinnerung?«
»Als extrem clever und ziemlich sonderbar. Aber er war mein kleiner Bruder. Ich habe immer auf seiner Seite gestanden. Vor allem gegen unseren Vater, der ihn andauernd auf dem Kieker hatte.«
»Was meinen Sie mit sonderbar?«
»Sonderbar eben«, beharrte Volkova. »Er konnte ziemlich gemein sein, auch zu mir. Er hat mit meinen Puppen herumexperimentiert, daran kann ich mich noch gut erinnern. Hat ihnen die Köpfe abgerissen und ausgetauscht und solche Dinge. Unser Vater ist ausgerastet, als er es gesehen hat. Aber ich habe nie gepetzt. Nicht ein einziges Mal.«
»Mochte er Sie?«
»Watkin war kein Kind, das sich zu jemandem hingezogen fühlte. Er hat es schon immer vorgezogen, allein zu sein. Oder mit seinen idiotischen Freunden zusammen, wie diesem verdammten ›Kamel‹, obwohl ich nicht genau weiß, wie viel er mit ihnen wirklich unternommen hat. Mit mir hat er jedenfalls nichts unternommen. Aber wenn es jemanden auf der Welt gibt, den er mochte, dann war das wohl ich. Als er noch kleiner war, mochte er, glaube ich, auch unsere Haushälterin. Ich meine, sie hieß Anaïs. Sie ist übrigens auch ziemlich ... plötzlich verschwunden.«
»Und Ihre Mutter Maria, mochte er sie nicht?«
»Doch, schon, aber zum Ende hin, also bevor er verschwand, war die Stimmung zwischen ihnen ziemlich angespannt, daran kann ich mich gut erinnern. Vielleicht hat es ja dazu beigetragen, dass unsere Mutter verrückt wurde, was weiß ich?«
»Erinnern Sie sich daran, ob Watkin im Herbst 1994 Besuch von einem Mann bekam?«
»Von einem Mann? Einem erwachsenen Mann? Nein, das kann ich nicht bestätigen.«
»Glauben Sie, dass Watkin heute, mehr als fünfzehn Jahre später, noch eine gefühlsmäßige Bindung zu Ihnen haben könnte?«
Vera Volkova sah Hjelm nachdenklich an. Dann antwortete sie: »Jetzt, wo Sie das sagen, fällt mir etwas ein. Es muss kurz vor seinem Verschwinden gewesen sein. Wir saßen zu Hause und aßen zu Abend. Unsere Mutter lag in der Klinik, und unser Vater war völlig aufgelöst. Es war das reinste Chaos. An diesem Abend hat sich Watkin zu mir vorgebeugt und mit kindlichem Ernst und ziemlich altklug, wie es für ihn typisch war, gesagt: ›Ich werde immer über dich wachen, Vera.‹ Es klang etwas eigenartig, geradezu bedrohlich, aber als ich ihn ansah, war sein Blick unendlich liebevoll, anders kann man es nicht bezeichnen.«
»Und dann ist er verschwunden?«
»Ja«, antwortete Vera Volkova. »Was hat er denn verbrochen?«
Paul Hjelm lehnte sich in seinem Flugzeugsessel zurück und seufzte.
»Watkin hat sich zu einem sehr gefährlichen Menschen entwickelt«, antwortete er schließlich. »Es ist wichtig, dass Ihnen das klar ist, Vera.«
Sie nickte sachte. »Ich habe es fast geahnt«, entgegnete sie. »Und er hält sich also in Nizza auf?«
»Ja, er wird bald in Nizza sein.«
»Und worin wird meine Aufgabe dort bestehen? Lockvogel zu spielen?«
Hjelm seufzte noch etwas lauter und entgegnete: »Wir werden Sie keiner Gefahr aussetzen. Das verspreche ich Ihnen.«
»Hm«, meinte Vera und schloss die Augen.
Die Minuten vergingen. Als Hjelm sich davon überzeugt hatte, dass sie schlief, erlaubte er sich, ebenfalls die Augen zu schließen.
Er schlief bereits, als ihre Stimme durch den dichten Nebel seiner Träume drang: »Ich habe ziemlich harte Zeiten hinter mir. Und auch heute, wo ich versuche, das Leben all der Drogenabhängigen in Kaliningrad wieder in geregelte Bahnen zu lenken, ist es nicht anders. Vielleicht ist das der Ausgleich für meine wohlbehütete Kindheit, vielleicht versuche ich aber auch nur, meinem Exmann, diesem Monster, zu entfliehen. Wenn Sie mich also irgendwelchen Gefahren aussetzen müssen, um einen Mörder festzunehmen, kann ich damit umgehen. Mehr wollte ich Ihnen nicht sagen.«
»Mörder?«, fragte Hjelm und öffnete die Augen.
Vera Volkovas Augen waren immer noch geschlossen, als sie antwortete: »Aber es ist doch wohl klar, dass Watkin Menschen ermordet hat.«
Paul Hjelms übermüdetes Bewusstsein war kurz davor, vom Schlaf überwältigt zu werden, als das Flugzeug zur Landung auf dem Aéroport Nice Côte d’Azur ansetzte. Hjelm, Beyer und Kowalewski gingen zu unterschiedlichen Mietwagenfirmen, orderten jeweils ein Auto und
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