Zorn: Thriller (German Edition)
wieder eine Weile.
Bis Ivanova meinte: »Jede beliebige Person hätte mit dieser Taschenlampe blinken können. Das hätte nicht unbedingt ich sein müssen.«
Söderstedt legte sein Gesicht in Falten und entgegnete: »Wir hatten den Überblick verloren. Wir haben Viktor Larsson unterschätzt.«
»Sind Sie also hier, um sich zu entschuldigen oder um gelobt zu werden?«
Der schwache Punkt. Sie hatte ihn sofort getroffen. Aber er hatte auch nichts anderes erwartet.
»Ich glaube, keines von beidem«, antwortete er. »Aber das, was man von sich selbst denkt, stimmt offenbar selten mit der Realität überein.«
»Es scheint eine grundlegende Bedingung für die Entwicklung des Menschen zu sein«, entgegnete Marina Ivanova, »dass das Selbstbild etwas schiefhängt.«
»Das Gefühl habe ich auch«, pflichtete Söderstedt ihr bei.
»Der Unterschied ist nur, dass nichts von dem, was ich tue, Gefühlen entspringt«, erklärte Ivanova. »Und aus welchem Grund glauben Sie, hier zu sein, Arto Söderstedt? Um dieselbe Luft einzuatmen wie das Leben, das Sie gerettet haben? Weil es heilige Luft ist?«
»Schon möglich, dass mein Unterbewusstsein so etwas in der Art anstrebt«, antwortete Söderstedt. »Aber ich bin eher wegen des Grafen von Monte Christo hier.«
»Wegen des Buchs oder der Person?«
»Wegen des Buchs«, antwortete Söderstedt. »›Die unbewusste revolutionäre Struktur im Grafen von Monte Christo ‹. Ich bin in den letzten Tagen ziemlich viel geflogen und habe dabei den dicken Wälzer von Dumas gelesen. Allerdings kann ich darin keine unbewusste revolutionäre Struktur entdecken.«
»Und deswegen sind Sie hergekommen?«
»Natürlich auch, um zu sehen, wie es Ihnen geht.«
»Man sagt, dass es medizinisch gar nicht möglich ist, was Sie in der Einzelzelle auf Långholmen fertiggebracht haben. Ihr Körper hätte eigentlich völlig erlahmt sein müssen. Alle Ärzte sagen dasselbe. Vermutlich sind sie der Meinung, dass ich etwas mehr Dankbarkeit zeigen müsste.«
»Sie müssten eigentlich stinksauer sein.«
»Ehrlich gesagt bin ich tatsächlich eher dankbar«, entgegnete Ivanova. »Aber vielleicht noch mehr dem Mann, der seinen Kopf gegen meine Wunde gepresst hat. Chavez. Das ist fast lyrisch. Doch er hat mich nicht besucht.«
»Er ist ein weitaus anspruchsloserer Mensch als ich«, entgegnete Söderstedt.
Sie betrachteten einander eine Weile.
Dann sagte Marina Ivanova: »Ich liebe diese Bücher, die den Eindruck vermitteln, eine bestimmte Sache zu thematisieren, aber eigentlich etwas ganz anderes erzählen. Das, was Sie auf Långholmen geleistet haben, Sie und Chavez, verweist unbestreitbar auf eine ›unbewusste revolutionäre Struktur‹.«
»Hatten denn Ihre Jubelschreie und die des ›Roten Didde‹ im Pausenraum als Reaktion auf den Einsturz der Twin Towers nicht auch etwas davon?«
»Nein«, antwortete Ivanova und schüttelte den Kopf, sodass die Schläuche bedrohlich hin und her schwangen. »Wir hatten es geglaubt. Aber Gewalt ist immer reaktionär, immer zwecklos. Der Rachefeldzug von Edmond Dantès im Grafen von Monte Christo ist grausam und gewalttätig, aber darum geht es nicht. Es geht um Aktivismus. Darum, Grenzen zu überwinden, sogenannte Naturgesetze zu übertreten. Das ist es, was Dantès tut. Die Rache ist sekundär, diesbezüglich liegt Viktor falsch. Die Rache von Dantès hingegen schafft eine Art absolute Gerechtigkeit. Die gibt es, das spüren wir instinktiv alle. Es war nämlich Ihr Instinkt, der Sie und Chavez so handeln ließ, wie Sie es taten – und wir alle spüren es, wenn wir falschliegen, nicht zuletzt die Ungerechten selbst spüren es sehr deutlich. Darum geht es in meinem Buch. Um den angeborenen Instinkt, Ungerechtigkeiten auszugleichen. Wir haben es in den Genen – nur leben wir in einer Zeit, die sich nicht nach den Naturgesetzen des menschlichen Daseins richtet. Doch jedes Mal, wenn wir uns einer Sache bemächtigen oder uns einen Vorteil erschwindeln, reagiert unser Organismus instinktiv. Das Zeitalter der Gier ist lediglich eine Fußnote in der Geschichte, und die Nachwelt wird diese Jahrzehnte hart verurteilen.«
»Aber Ihr eigenes Interesse gilt weder der Vergangenheit noch der Zukunft«, wandte Söderstedt ein. »Wenn ich mich recht entsinne, arbeiten Sie doch an einer Philosophie, die auf das Leben in der Gegenwart abzielt.«
Das war das erste und einzige Mal, dass er Marina Ivanova lächeln sah.
Sie entgegnete: »Das ist das Einzige, was uns hier im
Weitere Kostenlose Bücher