Zorn - Tod und Regen
zu, Chef.«
Irgendetwas an Schröders Stimme ließ Zorn aufhorchen. »Was?«
»Hannah Saborowski ist nicht im Büro erschienen. Und sie geht nicht an ihr Telefon.«
Zorn spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. »Schick eine Streife zu ihrer Wohnung. Sofort. Die sollen die verdammte Tür aufbrechen, wenn sie nicht aufmacht. Ich bin in zehn Minuten im Präsidium.«
*
Die Zeit ist aus den Fugen, sie dehnt sich. Wie eine Blase, wird größer, immer größer, bis sie den ganzen Raum ausfüllt. Verdrängt alles. Die Angst, die Kälte, den Durst. Es gibt kein Gut, kein Böse. Nur die Zeit, die nicht vergeht. Und die Dunkelheit.
Sie hat keine Ahnung, wie lange sie jetzt hier ist. Stunden? Tage? Viel mehr kann es nicht sein, sonst wäre sie längst verdurstet. Oder ist sie vielleicht schon tot?
Dann ändert sich alles. Die Blase fällt in sich zusammen, sie hört einen hohen, dissonanten Pfeifton und kehrt zurück. Riecht den Gestank ihrer eigenen Exkremente, spürt das Gewicht ihres Körpers. Ein rohes, zitterndes Stück Fleisch. Dann kommt der Schmerz zurück. Als hätte er nur in der Dunkelheit gelauert, um sich nun mit verdoppelter Wucht auf sie zu stürzen. Verbeißt sich in ihr, wie ein hungriger, tollwütiger Köter, der von der Leine gelassen wird.
Das schrille Pfeifen wird lauter. Es kommt nicht von außen, sondern entsteht direkt in ihrem Kopf. Sie schluchzt leise, zerrt kraftlos an ihren Fesseln und sinkt dann zusammen. Weiß, dass es keine Hoffnung gibt.
Ein Schlüssel dreht sich rumpelnd im Schloss. Die dicke Stahltür protestiert quietschend, als sie geöffnet wird. Gelbliches, trübes Licht dringt herein.
Sie schließt geblendet die Augen. Gut, dass du kommst, denkt sie. Ich will nicht mehr warten. Lass uns das hier beenden.
*
»Warum um alles in der Welt hast du noch keine Fahndung rausgegeben?«
»Weil wir keine Ahnung haben, wie lange sie verschwunden ist, Chef. Falls das überhaupt der Fall sein sollte. Sie könnte genauso gut weggefahren sein.« Schröder hob ratlos die Arme. »Vielleicht ist sie beim Arzt oder besucht eine Freundin, das Handy hat keinen Empfang, es gibt Dutzende Möglichkeiten.«
Zorn dachte einen Moment nach. Schröder hatte recht. Aber das war egal.
»Gib die Fahndung raus. Ich will das volle Programm, mit allem Brimbamborium.«
Schröder nickte und machte Anstalten, das Büro zu verlassen.
Zorn hob die Hand. »Warte. Schick mir den Psychologen her, Keitel. Ich will ihn sofort sprechen.«
»Geht es um die Anzeige?«
»Welche Anzeige?«
»Gegen dich. Wegen Fahrerflucht.«
Das hatte Zorn völlig vergessen.
»Scheiß auf die verdammte Anzeige. Schick ihn einfach her.«
Als Schröder gegangen war, fühlte Zorn sich besser. Etwas jedenfalls. Die anfängliche Panik hatte sich gelegt, obwohl er sicher war, dass irgendwas nicht stimmte. Dass Hannah etwas zugestoßen sein musste. Er wusste nicht, wie er dieses Gefühl bezeichnen sollte, ob es nur eine Ahnung war oder tatsächlich so etwas wie Intuition. Oder war es Logik, und er zog einfach nur die richtigen Schlüsse?
Egal, er hatte sie in Gefahr gebracht, es war zu spät, etwas daran zu ändern. Er wählte Hannahs Handynummer, die Mailbox sprang sofort an. Etwas anderes hatte er auch nicht erwartet. Frustriert warf er das Telefon auf den Schreibtisch. Überlegte kurz, nahm es wieder zur Hand und schrieb eine SMS .
Wo bist du, verdammt?? Melde dich!
Jetzt konnte er nur noch warten.
Es klopfte kurz, die Tür wurde aufgerissen, und Doktor Keitel betrat das Büro. Zorn wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.«
Keitel nahm Platz und knöpfte sein Jackett auf. »Normalerweise kommen die Leute zu mir, Herr Hauptkommissar.«
»Die Situation ist alles andere als normal.« Zorn nahm sich eine Zigarette. »Und ich brauche Ihre Hilfe.«
»Wenn es um Ihr Gutachten geht, sollten wir uns in Ruhe –«
»Das ist mir egal«, unterbrach Zorn. »Es gibt im Moment Wichtigeres.«
»Sie sollten das nicht unterschätzen.«
»Das tue ich nicht. Aber ich habe gerade andere Probleme. Zwei Menschen sind innerhalb kurzer Zeit ermordet worden, ein Dritter ist wahrscheinlich verschwunden, und ich habe keine Ahnung, ob es eine Verbindung gibt.« Zorn machte eine Pause und sah den Psychologen an. »Sie wissen, was ich von Ihrem Berufsstand halte.«
Keitel lehnte sich zurück und lächelte. »Das haben Sie mir deutlich zu verstehen gegeben, Herr Hauptkommissar.«
»Ich habe mir stundenlang
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