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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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Zorn sah zur Absperrung hinüber: Dutzende Reporter verlangten laut nach Auskunft, andere streiften ziellos durch die Menge und interviewten Menschen, die nichts gesehen hatten und trotzdem ihre Meinung kundtaten, in der Hoffnung, sich vielleicht abends in den Nachrichten sehen zu können.
    »Ich melde mich«, beendete Schröder das Gespräch. Als er Zorns fragenden Blick bemerkte, sagte er: »Der Pressesprecher der Bürgermeisterin will wissen, was er den Reportern erzählen soll.«
    »Er soll sich was einfallen lassen. Von uns gibt’s keine Interviews.«
    »Ist das klug?«
    »Mir egal, ob das klug ist. Es ist nicht unsere Aufgabe, mit der Presse zu reden. Wir wissen ja nicht mal genau, ob die Sache hier ein Unfall, Selbstmord oder Mord war.«
    »Doch. Das wissen wir, Chef.«
    Wie immer, wenn er nachdenken musste, griff Zorn zu einer Zigarette. Schröder hatte recht. Es schien klar, dass es kein Unfall war. Und auch kein Selbstmord. Blieb nur noch eine Möglichkeit.
    »Stimmt«, seufzte er und blies den Rauch durch die Nase. »Wir warten trotzdem auf die endgültige Identifizierung und den vorläufigen Bericht des Pathologen.«
    »Wir sollten die Öffentlichkeit um Mithilfe bitten. Wir sind hier mitten auf dem Markt. Irgendjemand muss doch was gesehen haben.«
    »Dann sag dem Pressesprecher, dass wir in drei Stunden eine Erklärung rausgeben. Nee, vier! Das sollte reichen.«
    Schröder nickte.
    Zorn trat die Zigarette aus. »Ich geh jetzt frühstücken und bin in einer halben Stunde wieder da.« Hunger hatte er überhaupt nicht, aber er wollte einfach nur weg. Weg von diesem Rummel, von all diesen Menschen. Und vor allem wollte er weg von Philipp Sauers hässlicher Leiche.
    Er wandte sich in Richtung unterer Markt. Notgedrungen musste er direkt an der Stelle vorbei, an der man den Staatsanwalt gefunden hatte. Er lief zwischen den Verkaufsständen hindurch, nickte den beiden Polizisten zu, die vor dem Zelt Wache standen, und stoppte dann vor einem Fahrkartenautomaten. Ein roter, quadratischer Kasten auf verchromten Stelzen. Rechts unten, über der Klappe für das Wechselgeld, klebte etwas, das dort nicht hingehörte.
    Er winkte einen der Uniformierten heran. »Schick mir jemanden von der Spurensicherung«, sagte er barsch und unterdrückte die aufsteigende Übelkeit.
    Er ahnte, was er da vor sich hatte. Ein gezackter, feuchter Fleck von vielleicht fünfzehn Zentimetern Durchmesser. Hellgrau, glänzend, eindeutig frisch. Eine durchsichtige Flüssigkeit lief an den Rändern herab und war bereits teilweise geronnen. In der Mitte ein weißer Splitter, trapezförmig, etwa doppelt so groß wie eine Briefmarke. Ein Haarbüschel klebte daran. Dunkel, glänzend. Haare, die irgendwie gepflegt aussahen. Sorgfältig gegelt. Wie bei Staatsanwalt Sauer.
    »Oh«, sagte jemand hinter ihm, »da hätten wir fast was übersehen.« Ein untersetzter Mann im weißen Schutzanzug der Spurensicherung war herangetreten, beugte sich hinab und musterte den Fleck interessiert. »Eindeutig ein Stück Schädel.« Er schabte mit einer Pinzette an der weißen Flüssigkeit, das Geräusch erinnerte Zorn an Fingernägel, die über eine Schultafel kratzen. »Hirnmasse«, murmelte der Mann und richtete sich stöhnend auf. »Danke, Kollege. Was für ’ne Riesensauerei, oder?«
    Zorn nickte nur. Es war über ein Jahrzehnt her, und doch erinnerte er sich gut an das italienische Feinschmeckerrestaurant, in dem er damals mit Jana zum Essen gewesen war. Es hatte Kalbsbregen gegeben, in Gemüsebrühe gekochtes Hirn. Er hatte es kaum angerührt, doch plötzlich spürte er den nussigen, gummiartigen Geschmack auf der Zunge. Rannte los und schaffte es gerade noch, um die Ecke zu verschwinden.
    Am Seitenportal der Kirche befand sich eine versteckte Nische, in der eine Statue in den Sandstein gehauen war. Zorn wehrte sich nach Kräften, doch er konnte nicht verhindern, dass sich ein großer Teil seines Mageninhaltes über die Füße des Heiligen Johannes ergoss.

Fünfzehn
    Langsam, ganz langsam öffnet sie die Augen. Schließt sie wieder. Wartet einen Moment, bevor sie sie wieder aufmacht. Versucht, zur Seite zu sehen, erst nach links, dann nach rechts, starrt mit äußerster Anstrengung, doch es ergibt keinen Unterschied. Egal, ob ihre Augen geschlossen sind oder nicht: Alles bleibt schwarz. Eine kompakte, fast physisch greifbare Finsternis.
    Dies ist der dunkelste Ort, an dem sie jemals war.
    Und es ist kalt. Sie liegt auf dem Rücken, auf einer Stahlplatte

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