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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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oder etwas Ähnlichem, etwas, das die Kälte speichert und mit doppelter Kraft von unten gegen ihren Körper presst. Hand- und Fußgelenke sind gefesselt. Die Stricke müssen irgendwo am Boden befestigt sein, vielleicht mit Pflöcken. Ihre Arme sind gestreckt, die Beine gespreizt, sie werden mit unwiderstehlicher Gewalt vom Körper weggezogen. Das ist unangenehm, verursacht aber im Moment kaum mehr als ein Kribbeln in den Gelenken. Schlimm ist die Kälte, die sich in ihren nackten Rücken zu verbeißen scheint wie Millionen Insekten, die eifrig damit beschäftigt sind, ihr das Fleisch von den Knochen zu nagen. Sie streckt sich, drückt die Hüften nach oben, versucht, den Körper vom Metall wegzubekommen. Dabei sackt ihr Kopf nach hinten, und die Wunde, die die Schlinge in ihren Hals gegraben hat, klafft zentimeterweit auf und lässt sie stöhnend zurücksinken. Es ist, als würde sie nackt auf blankem Eis liegen.
    Wieder schließt sie die Augen. Grelle Flecken tanzen hinter ihren Lidern. Verblassen langsam, bis sie schließlich ganz verschwunden sind. Bis auf einen, einen kleinen, leuchtend grünen Punkt, der unbeweglich in der Schwärze über ihr verharrt. Das sieht irgendwie anders aus, realer, sie will die Augen wieder öffnen und merkt, dass sie das schon längst getan hat. Der grüne Fleck bleibt. Wie ein Stern, der einsam auf sie hinabblickt. Nein, irgendwie anders. Sterne haben etwas Tröstliches. Das, was da schräg über ihr schwebt, ist anders. Bedrohlich. Und es scheint direkt auf sie gerichtet zu sein.
    Sie hört ihren eigenen, kratzenden Atem. Hält die Luft an und lauscht. Es ist absolut still. Klinisch still, keinerlei Geräusch. Nicht einmal dieses leise Rauschen, das man selbst in leeren Räumen wahrnimmt, wenn man sich Zeit lässt und genau hinhört. Sie spürt, wie ihr Rücken taub wird, es ist ein angenehmes Gefühl, als der Schmerz allmählich nachzulassen scheint.
    »Was weiß er über mich?«
    Sie schreit auf. Er spricht leise, und doch dröhnen diese fünf Worte wie ein Bombenhagel. Sie hebt den Kopf, spürt einen leichten, kaum wahrnehmbaren Luftzug. Der grüne, flimmernde Punkt scheint die Position gewechselt zu haben. Er kommt näher. Sie bäumt sich auf, zerrt an den Fesseln, weiß, dass es sinnlos ist, und kann doch nicht aufhören, sich zu wehren.
    »Was weiß er?«
    Ein Flüstern, nur ein paar Zentimeter von ihrem linken Ohr entfernt. Sie spürt seinen warmen Atem. Er muss unheimlich schnell sein. Und leise. Sie dreht den Kopf in seine Richtung, erwartet, dass das grüne Licht direkt vor ihr erscheint, und schließt instinktiv die Augen, um nicht geblendet zu werden.
    »Was weiß er über mich?«
    Diesmal von der anderen, der rechten Seite. Sie hat keine Ahnung, wie er dorthin gekommen ist. Reißt den Kopf herum, das Licht explodiert dicht vor ihren Augen.
    Sie schreit, so laut sie nur kann.
    Dann hört sie zwei, drei leise Schritte, gefolgt von kaum wahrnehmbarem Knarren, als würde sich jemand auf einen Stuhl setzen. Als sie aufblickt, ist das grüne Licht da, wo sie es zuerst gesehen hat.
    Mehrere Minuten vergehen. Schon fängt sie an zu zweifeln, ob das alles real ist, eine leise Hoffnung keimt in ihr, dass sie vielleicht nur träumt. Dass sie in Wirklichkeit zu Hause in ihrem Bett liegt.
    »Ich mag diesen Ort«, klingt es aus der Dunkelheit. »Es ist der finsterste auf der ganzen Welt. Das hast du bestimmt auch schon gedacht, oder?« Eine leichte Euphorie schwingt in seiner Stimme mit, so, als müsse er sich Mühe geben, nicht lauthals loszulachen. »Und es gibt noch etwas, obwohl es vielleicht abgedroschen klingt, aber du solltest es wissen: Hier hört dich niemand schreien.«
    Sie weiß, dass sie etwas sagen muss. Ihr Hals brennt, das Schreien hat den Schmerz in der Kehle verdoppelt.
    »Was wollen Sie von mir?«
    Viel mehr als ein Krächzen bringt sie nicht zustande.
    »Das habe ich dir gesagt. Ich will wissen, was er weiß.«
    »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
    »Doch, das weißt du. Es ist eine einfache Frage, oder?« Er klingt, als würden sie sich schon jahrelang kennen. »Aber wir haben Zeit. Du kannst nachdenken, so lange du willst. Besser gesagt, so lange du durchhältst.«
    Sie versucht zu schlucken. Es ist, als würde ein mit Sandpapier umwickelter Tennisball ihre Kehle hinabgleiten. »Wenn Sie … wenn Sie mir erklären, was Sie von mir wollen, kann ich Ihnen helfen.« Sie beginnt zu weinen, wehrt sich dagegen, auch gegen das, was sie als Nächstes sagen wird.

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