Zorn - Tod und Regen
den Fall wichtig ist, kann ich nicht sagen.« Keitel lächelte ein wenig. »Ich habe eine Weile Medizin studiert. Bis ich durchs Physikum gefallen bin und mich notgedrungen der Psychologie gewidmet habe.«
Schröder kicherte leise und wischte ein paar Krümel vom Tisch.
»Das reicht fürs Erste«, sagte Frieda Borck und stand auf. »Ich denke, wir sind uns einig, dass wir uns zunächst auf Henning Mahler und sein Umfeld konzentrieren. Er kann sich ja nicht in Luft auflösen. Was ist mit seiner Tochter?«
»Die Anfrage in den Krankenhäusern läuft.« Schröder erhob sich ebenfalls und warf einen sehnsüchtigen Blick auf den leeren Teller. »Wir sollten jeden Moment Bescheid bekommen.«
Jetzt stand auch Zorn auf und ging zur Tür. »Eine Sache noch, Herr Hauptkommissar«, sagte Keitel und nahm ihn beim Arm.
»Herr Keitel, bitte, ich kann mich im Moment echt nicht um irgendein dämliches Gutachten kümmern!«
»Darum geht’s nicht. Ich habe die Aufzeichnungen von Sigrun Bosch gelesen.«
»Und?«
»Was wissen Sie über den Vater ihres Kindes?«
»Nicht viel«, erwiderte Zorn. »Nur, dass er wahrscheinlich kein Deutscher ist. Haben Sie mich deswegen gestern angerufen?«
»Ja. Sie sollten das prüfen. Sigrun Bosch hatte Angst. Ich denke, sie fühlte sich von dem Mann bedroht.«
Ich habe auch Angst, dachte Zorn, als er wieder in seinem Büro war. Er wusste nicht, ob es an seiner Müdigkeit lag oder an den Schuldgefühlen, vielleicht stand er auch einfach unter Schock. Jedenfalls war er unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Namen, Dinge, Bilder wirbelten durch seinen Kopf, ein Chaos, das ihn schwindeln ließ.
Sauer, Mahler, Sivo. Feuchtes Gras. Große, zerzauste Vögel. Ein Koffer. Uralte Schlagermusik. Der Geruch nach frischer Erde. Hannah, die ihm einen Kuss auf die Nase gab.
Er sah auf seine Hände. Da war immer noch Dreck zwischen den Fingern und unter den Nägeln. Ich muss mich unbedingt waschen, überlegte er und legte den Kopf auf die Arme. Im nächsten Moment war er eingeschlafen.
Neunzehn
Ungefähr zu der Zeit, als Claudius Zorn in seinem Zimmer leise zu schnarchen begann, stand Schröder in der Pathologie und ließ sich die Ergebnisse der Obduktion erklären.
»Ich habe schon einiges erlebt, aber so etwas ist mir wirklich noch nicht unter die Augen gekommen«, meinte der Gerichtsmediziner und wusch sich die Hände in einem der verchromten Waschbecken. »Die Frau ist regelrecht zerlegt worden. Es gibt so gut wie keinen intakten Knochen, allein das Brustbein wurde sechsfach zertrümmert. Sechsfach.« Seine Stimme klang eigenartig, hallte unnatürlich stark von den weißen, bis zur Decke gefliesten Wänden wider.
Schröder lehnte neben der Tür und hörte aufmerksam zu.
»Was ist mit der Mordwaffe?«
»Es sind mehrere, mindestens zehn. Sie wurde mit unterschiedlichen, mehr oder weniger stumpfen Gegenständen geschlagen. Ich habe Spuren von Metall und Rost in den Wunden gefunden. Wahrscheinlich handelt es sich um Hämmer, die stumpfe Seite einer Axt oder andere Werkzeuge. Sie hat Dutzende Rippenbrüche. Frakturen an sämtlichen Extremitäten, Becken und Rückgrat sind mehrfach gebrochen, der Schädel wurde förmlich pulverisiert. Ein Großteil der Verletzungen wurde ihr beigebracht, als sie bereits tot war. Die endgültige Todesursache ist wohl ein neurogener Schock, ausgelöst durch die Schmerzen.« Der Pathologe leierte seinen Befund herunter, als würde er eine Vorlesung halten. Er trug eine Chirurgenbrille, an deren Gestell große, eckige Lupen befestigt waren, die ihm das Aussehen eines riesigen Insekts gaben. »Kurz gesagt, ihr Körper besteht aus einer einzigen, großen Wunde. Bei einem Haus würde man sagen, es wurde kein Stein auf dem anderen gelassen. Oder anders ausgedrückt: Man hat sie buchstäblich durch den Fleischwolf gedreht.«
Schröder verzog das Gesicht. »Der Vergleich gefällt mir nicht, Herr Doktor.«
»Mir auch nicht. Aber er passt. Leider.« Der Gerichtsmediziner nahm die Brille ab und trat näher. »Wir kennen uns noch nicht, Herr Kommissar«, sagte er und reichte Schröder die Hand. »Mein Name ist Salomon. Ich bin erst seit zwei Wochen hier.«
»Freut mich«, nickte Schröder und schüttelte dem Pathologen die Hand, ein glattes, weißes Ding, das durch den ständigen Umgang mit Desinfektionsmitteln etwas Fischiges bekommen hatte. »Ich frage mich, was die Ursache für all diese Gewalt sein könnte.«
Salomon zuckte die Achseln. »Wut? Hass? Rache? Es ist nicht
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