Zorn - Tod und Regen
seinem Stuhl zu kippen. Die Fassade des gleichmütigen, beherrschten Ermittlers begann zu bröckeln, er gab sich einen Ruck, richtete sich ein wenig auf und meinte dann: »Das letzte wirkliche Kapitalverbrechen, das diesen Namen verdient, liegt Jahre zurück. Das heißt nicht, dass hier nichts passiert wäre, im Gegenteil. Wir bekommen es nur nicht mit.«
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Schröder neben ihm die Hand vor den Mund hob und vergeblich versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.
»Jetzt haben wir innerhalb von wenigen Tagen vier Morde, einer brutaler als der andere. Als da wären«, er nahm die Finger zu Hilfe und begann mit der Aufzählung, »Sigrun Bosch wird zu Tode gefoltert. Staatsanwalt Sauer fliegt mit durchtrennter Kehle von der Marktkirche. Tom Mahler, ein zehnjähriger Junge, wird erwürgt und wie ein Tier verscharrt. Hannah Saborowski …« Er schluckte und machte eine Pause. »Hannah Saborowski wird in einem Koffer am Bahnhof gefunden.«
»Sie haben sie gekannt?«
»Ja.«
»Gut?«
»Nein.«
Zorn kratzte sich hinter dem Ohr. Seine Finger zitterten ein wenig. »Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Nein, ich fühle mich dieser Aufgabe nicht gewachsen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendjemanden gibt, der das guten Gewissens behaupten kann.«
»Ich habe bereits Verstärkung vom BKA angefordert.«
Zorn zuckte die Achseln. »Gut. Wenn Sie meinen.«
Neben ihm ertönte ein leises Grunzen. Schröder war auf seinem Stuhl zusammengesunken und schnarchte leise vor sich hin. Langsam, ganz langsam kippte er zur Seite. Zorn hielt ihn vorsichtig an der Schulter fest.
»Er ist jetzt seit über vierundzwanzig Stunden auf den Beinen.«
Frieda Borck überlegte einen Moment.
»Okay«, sagte sie und stand auf. »Ich würde vorschlagen, Sie gehen beide ein wenig schlafen. Ich werde in der Zeit die Akten durcharbeiten.« Sie sah auf die Uhr. »Wollen wir uns in drei Stunden hier treffen? Halb elf? Dann besprechen wir, wie wir weitermachen.«
Er nickte und erhob sich ebenfalls. Einen Augenblick lang wurde ihm schwindlig, er wankte kurz und hielt sich an der Stuhllehne fest. Schröder schreckte hoch und sah sich verdattert um.
»Entschuldigen Sie, ich bin wohl kurz eingenickt«, murmelte er und rieb sich das Gesicht.
»Das macht nichts«, erwiderte Frieda Borck. Dann wandte sie sich an Zorn. »Sie behalten vorerst die Leitung. Es würde einfach zu lange dauern, jemand anderen einzuarbeiten.« Sie gestattete sich ein kleines Lächeln. »Nicht, weil ich Sie für einen fähigen Ermittler halte.«
»Keine Sorge«, erwiderte Zorn. »Das tut hier niemand.«
*
Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass in der Waldstraße irgendetwas passiert sein musste. Man hätte meinen können, dass die meisten Leute an einem Dienstagmorgen entweder auf Arbeit oder im Bett waren, und doch hatte sich vor dem Haus Nummer 12 ein knappes Dutzend Menschen versammelt, angezogen von zwei Streifenwagen und einem Kleintransporter der Spurensicherung, die vor dem Grundstück parkten. Geduckt standen die Menschen im Nieselregen, als wären sie gegen ihren Willen hier versammelt. Es herrschte eine seltsame Mischung aus demonstrativer Teilnahmslosigkeit und unterdrückter Anspannung, eine Atmosphäre, wie man sie im Raubtierhaus kurz vor der Fütterung beobachten kann. Ein großer, dürrer Mann mit einer Plastiktüte versuchte immer wieder, über die Hecke einen Blick ins Innere des Grundstücks zu werfen, und unterrichtete die Übrigen mit wichtiger Miene von dem, was er dort sah. Das war so gut wie nichts, denn die Spurensicherung war längst fertig und untersuchte nun das Innere des Hauses.
Niemand beachtete den hageren Mann, der mit gesenktem Kopf in die Waldstraße einbog. Als er die versammelten Menschen bemerkte, stutzte er und blieb stehen. Einen Moment lang schien er wieder umkehren zu wollen. Dann kam er langsam näher, den Blick wieder zu Boden gerichtet. Er trug einen alten Regenmantel und einen Hut, dessen breite Krempe er tief in die Stirn gezogen hatte. Vor dem Haus blieb er einen Moment stehen, als höre er den Leuten zu.
Dann schlug Henning Mahler den Mantelkragen hoch und ging langsam davon.
*
Sie hatten sich in einem der Schulungsräume im Erdgeschoss getroffen und saßen nun zu viert um einen der großen Tische. Zwischen ihnen standen zwei Kannen Kaffee und ein Teller mit belegten Brötchen. Die kleine Gruppe wirkte ein wenig verloren in dem großen Raum, der Platz für zehnmal so viele Menschen
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