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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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zu lesen. Sie hatte gesagt, dass sie diesen Job nicht vermasseln würde.
    *
    Es war kurz vor sieben Uhr abends. Seit einer halben Stunde saß Zorn daheim in der Küche, rauchte und starrte auf die Plastiktüte mit Sushi, die vor ihm auf dem Tisch stand. Daneben lag sein Handy. Den Punkt, an dem er Malina hätte anrufen und ihr erklären können, warum er am letzten Abend nicht daheim gewesen war, hatte er längst überschritten.
    Aus der Nebenwohnung drang ein Poltern herüber, so, als würde ein schwerer Gegenstand zu Boden fallen. Einen Augenblick versuchte er, sich das Gesicht seines Nachbarn in Erinnerung zu rufen, aber es misslang. Zorn war ihm ein paar Mal auf dem Flur begegnet, ein farbloser, dünner Mann mit spärlichem Haar und hängenden Schultern. Sie hatten sich kurz zugenickt, dann war jeder seiner Wege gegangen.
    Komisch, dachte Zorn. Da lebt man jahrelang nur ein paar Meter entfernt voneinander und weiß noch nicht mal, wie der andere aussieht. Geschweige denn, dass man jemals ein Wort miteinander gewechselt hätte. Woran das wohl liegt? Weil es mich nicht interessiert?
    Warum, überlegte er weiter, mache ich dann diesen Job? Wenn mir andere Menschen egal sind?
    Er wusste, dass es sinnlos war, darüber nachzudenken. Es führte zu nichts.
    Zorn hatte Hunger. Einen Menschen gibt es ja, der mir definitiv nicht egal ist, dachte er und stand auf. Und wenn ich mich nicht traue, sie anzurufen, muss ich sie eben besuchen. Vielleicht kann ich ja unterwegs noch was essen. Er nahm seine Jacke und verließ die Wohnung.

Zwanzig
    Die Türme der Marktkirche standen schief. Eine tektonische Verwerfung, die sich quer unter dem Markt über mehrere Kilometer bis hin zum Bahnhof erstreckte, war die Ursache dafür, dass die Turmspitzen im Laufe der Jahrhunderte immer weiter aus dem Lot geraten und mittlerweile fast zwei Meter nach Südwesten geneigt waren.
    Das südliche Seitenschiff war mit Bauzäunen abgesperrt. Dort hatte man begonnen, die Fundamente der Stützpfeiler zu erneuern, und eine tiefe Baugrube ausgehoben.
    Der Markt war so gut wie menschenleer. Nichts erinnerte daran, dass hier vor weniger als vier Tagen ein Mensch aus über fünfzig Metern Höhe auf das Pflaster gestürzt und buchstäblich zermalmt worden war. Die Reporter waren mit den Übertragungswagen der Fernsehanstalten längst abgezogen, auf der Suche nach neuen, spektakulären Ereignissen, die in den Abendnachrichten gesendet werden konnten. Was genau das war, blieb uninteressant. Hauptsache, die Menschen sahen es an. Egal, ob es mit Mord, untreuen Filmstars oder kleinen Tieren zu tun hatte.
    Die Verkaufsstände hatten seit einer Stunde geschlossen. Langsam, eine nach der anderen, flackerten die Laternen auf. Vor dem Rathaus lungerten ein paar schwarz gekleidete Teenager und stritten lautstark um eine Zigarette.
    Eine Straßenbahn kam quietschend um die Ecke. Aus den Lautsprecherboxen an der Haltestelle verkündete eine knarrende Stimme, dass der Zug wegen des Hochwassers hier ende und ins westliche Depot umgeleitet werde. Die Verkehrsgesellschaft bedauere die Umstände und wünsche den verehrten Fahrgästen trotz allem einen guten Heimweg. Das Echo dieser Durchsage hallte noch von den Glaswänden der Stadtsparkasse wider, als die Insassen die Bahn verließen und hastig in alle Richtungen auseinanderstoben.
    Als Letzter stieg ein hochgewachsener Mann aus, der im Gegensatz zu den anderen keine Eile zu haben schien.
    Den Regenmantel hatte er gegen eine schwarze Trekkingjacke getauscht. Er trug einen Rucksack und hohe Wanderstiefel. Niemand schenkte ihm Beachtung, als er langsam über den Platz in Richtung Kirche schlenderte. Vor dem Bauzaun blieb er stehen, sah sich kurz um und verschwand hinter der Absperrung.
    In der Baugrube lehnte eine Leiter. Vorsichtig stieg Henning Mahler in die Tiefe.
    *
    Malina schien Zorn erst zu bemerken, als er direkt vor ihr am Tresen Platz genommen hatte. Sie saß auf einem Hocker und las in einer Illustrierten. Die Bar war so gut wie leer, nur im hinteren Teil, direkt unter dem Aquarium, saßen zwei junge Männer, steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich leise.
    Als er sich setzte, blickte sie kurz auf, nickte ihm zu und widmete sich wieder ihrer Lektüre.
    Nach ein paar Minuten wurde Zorn ungeduldig und begann, mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln. Für Malina allerdings schien es nichts Wichtigeres als ihre Zeitschrift zu geben.
    Er räusperte sich.
    »Ja?«, fragte sie und blätterte um.
    »Ich kann

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