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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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war es finster. Und es roch anders. Irgendwie feucht. Und erdig.
Nach verdammter Affenpisse
hätte Tom gesagt, wenn er jetzt hier wäre. Aber das war er nicht. Sie hatten sich oft gestritten, ja, und er konnte ein richtiges Arschloch sein. Aber jetzt vermisste sie ihn.
    Die Wochen im Krankenhaus hatte sie mehr oder weniger vor sich hingedämmert, die Medikamente hatten dafür gesorgt, dass die Schmerzen irgendwann verschwanden. Sie hatte viel geschlafen, und sie hatte geträumt.
    O ja, sie hatte viel geträumt. Von Pferden, die über Wiesen mit blauen Blumen galoppierten. Von Magiern mit weißen Bärten, gütigen Augen und Zauberstäben, mit denen sie die wütenden Drachen in harmlose Kaninchen verwandelten. Dinge, von denen die meisten zehnjährigen Mädchen träumen. Gute Träume.
    Aber es gab auch schlechte. Da war dieses schwarze Auto, das immer näher kam. Sie konnte es nicht sehen, denn es war hinter ihr, aber sie wusste, dass es da war. Dann hörte sie das Quietschen der Bremsen, das Kreischen von Metall. Der Geruch von verbranntem Gummi, ihr neues Fahrrad wurde beiseitegeschleudert, sie flog durch die Luft, lange, als ob sie nie wieder den Boden berühren würde. Die Zeit stand still. Obwohl doch Winter war, trug sie ein blaues Sommerkleid, das im Wind flatterte. Es gab keine Schmerzen, auch dann nicht, als sie nach Ewigkeiten aufprallte.
    Nein, keine Schmerzen. Nur dieses Knacken im Rücken. Als würde ein trockener Zweig brechen.
    Irgendwann waren die Grenzen zwischen Wachen und Schlafen verwischt. Zwischendurch war ihr Vater aufgetaucht, das war in den guten Träumen gewesen. Sie hatte mit ihm gesprochen. Er hatte ihre Hand gehalten, dann war sie wieder abgetaucht, flog über die Wiesen, die Blumen waren nicht mehr blau, sondern rot, und die Zauberer hatten jetzt die dunklen Augen ihres Vaters. Und als sie selbst die Augen wieder öffnete, war er weg, aber das war nicht schlimm. Er würde wiederkommen, und er würde ihre Mama mitbringen. Und Tom.
    Auch jetzt war ihr nicht klar, dass sie wach war. Sie wusste nur, dass sie Durst hatte. Und dass der Ort, an dem sie jetzt war, kein guter Ort sein konnte. Und noch etwas war anders: Sie lag nicht im Bett, sondern sie saß. Ein weicher, großer Stuhl, der nicht einmal unbequem war.
    Sie konnte nicht wissen, dass sie die letzten dreißig Stunden sitzend vor sich hingedämmert hatte. Ebenso, wie sie nicht ahnen konnte, dass sie für den Rest ihres Lebens auf diesen Rollstuhl angewiesen sein würde.
    Vorsichtig tastete sie mit der rechten Hand über die Lehne. Dort war eine runde Vertiefung, ein Pappbecher stand darin. Sie hob ihn auf und roch daran. Cola. Warm, ein wenig abgestanden, aber süß. Sie trank schnell, ein Großteil lief ihr über die Mundwinkel und den Hals.
    Die linke Hand war noch immer verbunden, mit der rechten tastete sie weiter. Ihre Finger wanderten über eine Decke, die um ihre Beine geschlungen war. Auf ihrem Schoß lag ein Schokoriegel. Sie biss ein Stück ab und verzog kurz das Gesicht. Nüsse. Sie mochte Schokolade, aber keine Nüsse. Das war allerdings egal, im Handumdrehen hatte sie alles verschlungen. Jetzt ging es ihr besser.
    Dann hörte sie ein Geräusch. Ein leises Scharren.
    Sie schrak zusammen. Woher sollte sie wissen, dass es nur das Knacken der Heizung war? Sie war zehn Jahre alt. Und in ihrer Welt lauerten die Monster noch in den Wänden.
    »Papa?«, flüsterte sie.
    Sie richtete sich auf, saß mit aufgerissenen Augen da, den Mund mit Cola und Schokolade verklebt, und lauschte angestrengt in die Dunkelheit.
    »Papa?«
    Dann war es still.
    Ich habe keine Angst, dachte sie und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Nein, ich werde nicht weinen. Irgendwann kommt mein Papa. Er hat es versprochen.
    *
    »Kann es sein, dass du gar nicht so cool bist, wie du immer tust?«
    »Wie meinst du das?«, fragte Zorn.
    Malina trug ein hellgraues, dünnes Kleid, das knapp über die Knie reichte. Sie hockte auf seinem Sofa, die Beine hatte sie bis unters Kinn hochgezogen und die Arme um die nackten Unterschenkel geschlungen. Er saß ihr im Sessel gegenüber und rauchte. Sie hatten im
Basement
gegessen, eine Flasche Wein getrunken und später ein Taxi genommen. Im Fahrstuhl war Malina wie selbstverständlich auf seiner Etage ausgestiegen und mit ihm in die Wohnung gegangen.
    Sie waren jetzt seit einer halben Stunde hier, der übliche, dumpfe Geruch nach Zigarettenqualm schien verschwunden. Es roch nach ihr, nach Flieder. Das gefiel

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