Zorn - Tod und Regen
ihm.
»Du versuchst ständig, anderen weiszumachen, dass du anders wärst, als du eigentlich bist, Claudius.«
Sie redet, als wären wir verheiratet, dachte er und musste unwillkürlich lächeln.
Malina gestikulierte mit dem vollen Weinglas in seine Richtung. »Und man sieht dir nie an, was du denkst.«
»Das liegt an meinem Job.«
»Dann hast du einen Scheißjob.«
»Würd ich nicht abstreiten.«
»Und woran denkst du jetzt, Claudius?«
»An deinen Onkel.«
Sie sah ihn verwundert an. »Onkel Mirko? Warum?«
Er stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Du hast mich gefragt, was ich denke. Und ich habe dir geantwortet.«
»Ist das ein Verhör, Herr Kommissar?«
Zorn grinste schief und schüttelte den Kopf. »Mich interessiert einfach, wo du herkommst. Mit welchen Menschen du zu tun hast. Und was du den ganzen Tag machst.«
Sie zuckte die Achseln. »Gläser spülen?«
»Mehr nicht?«
»Gibst du mir noch Wein?« Sie hielt ihm ihr Glas entgegen. Er goss ihr nach und nahm sich eine neue Zigarette. Sie trank einen Schluck und stellte das Glas vorsichtig auf den Tisch. »Warst du schon einmal in Kroatien?«
Er nickte. Das musste jetzt fast zwanzig Jahre her sein, kurz, bevor sich Jana von ihm getrennt hatte. Sie hatte damals einen Urlaub in einem Hotel an der Adria gebucht. Wahrscheinlich, um herauszufinden, ob an ihrer Beziehung noch etwas zu retten war. Zorn hatte den ganzen Tag am betonierten Hotelstrand gelegen und gelesen. Auf der Rückfahrt hatten sie kein Wort miteinander gewechselt.
»Ich meine nicht das Meer«, sagte Malina. Der Alkohol hatte ihre Wangen leicht gerötet. »Sondern das Hinterland, da, wo man keine Touristen trifft. Warst du dort?«
»Nein. Warum fragst du?«
»Ich bin in den Bergen aufgewachsen.«
»In Kroatien?«
»Ja. Als ich zwölf war, im Krieg, kamen die Serben in unser Dorf.« Sie sprach langsam, als würde sie jedem ihrer Worte nachlauschen. »Sie blieben nur eine halbe Stunde, aber nachdem sie das Dorf verlassen hatten, waren alle Erwachsenen tot. Meine Eltern auch. Onkel Mirko war damals bei der Armee, er kam drei Tage später zurück und hat mich zu sich genommen. Als er zwei Jahre später nach Deutschland ging, bin ich mit. Ich habe keine Sekunde überlegt, als er mich gefragt hat.«
Sie stellte ihr Glas ab und sah nachdenklich zum Fenster. Die Scheiben waren beschlagen, der Regen rann in dünnen Schlieren hinab.
Zorn drückte seine Zigarette aus. »Man hört dir gar nicht an, dass du aus Kroatien kommst.«
»Meine Mutter war Deutsche. Mirko ist der ältere Bruder meines Vaters. Er hat selbst keine Kinder und sagt immer, dass wir vom gleichen Blut sind, er und ich. Dass es nichts Wichtigeres geben kann als das Band zwischen ihm und mir. Ich halte nichts von diesem Gelaber, aber er liebt mich, das weiß ich. Und ich liebe ihn. Ohne ihn hätte ich damals nicht überlebt. Er hat sich immer um mich gekümmert, das ist bis heute so geblieben.«
»Deshalb arbeitest du in seiner Bar?«
»Ja. Es ist eine gute Arbeit. Und ich bin immer in seiner Nähe.« Sie nahm ihr Glas, sah, dass es leer war und hielt es ihm wortlos entgegen. Wieder goss er nach. »Du bist der Erste, dem ich das erzähle, Kommissar.«
Sie sah ihn lange an. Sehr lange. Claudius Zorn spürte, wie ihm plötzlich warm wurde. Malina holte tief Luft. »Und jetzt«, sagte sie und prostete ihm zu, »erzähl mir was von dir.«
»Was willst du wissen?«
»Alles.«
*
Die Stationsschwester warf einen missbilligenden Blick auf die Uhr.
»Haben Sie eine Ahnung, wie spät es ist?«
Sie war knapp einen Kopf größer als Schröder und wog an die zwei Zentner.
»Die habe ich, Schwester.« Schröder lächelte höflich. »Und es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mich um diese Zeit noch empfangen.«
Der Flur der Kinderstation war verlassen. An den Wänden hingen fröhliche Zeichnungen mit lachenden Fröschen, tanzenden Zwergen und aufgehenden Sonnen. Die massige Krankenschwester hingegen verbreitete die Aura einer gereizten Elchkuh.
»Es ist fast Mitternacht. Was macht die Polizei eigentlich tagsüber?«
»Arbeiten.« Schröders Lächeln wurde breiter. »Tag und Nacht im Einsatz für Ordnung und Sicherheit.«
Die Schwester dachte nicht daran, sich von seiner guten Laune anstecken zu lassen. Stattdessen schürzte sie vorwurfsvoll die Lippen, was zur Folge hatte, dass sich über ihrer leicht behaarten Oberlippe winzige senkrechte Falten bildeten. Schröder konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass
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