Zorn und Zärtlichkeit
Komm jetzt, damit sie ihn verarzten können. Du bist ihnen nur im Weg.«
Sheena riß sich zusammen. »Ich werde ihn pflegen.«
»In dieser Verfassung bist du nicht imstande...«, begann Daphne einzuwenden.
»Ich habe gesagt, dass ich ihn pflegen werde«, fiel Sheena ihr mit harter Stimme ins Wort. »Er ist mein Mann.«
Daphne schwieg. In diesem Augenblick kam Tante Lydia ins Zimmer, und als sie Jamie sah, fing sie noch lauter zu schreien an als Sheena. Sie machte auf der Stelle kehrt und rannte wieder hinaus. Gellend hallten ihre Wehklagen von den Steinwänden des Flurs wider.
Sheena wandte sich zu ihrer Schwägerin. »Du hast es geschafft, mich zu beruhigen. Geh jetzt und beschwichtige auch deine Tante. Ich komme hier ganz sicher zurecht - wenn man mir ein wenig hilft.«
Und sie war tatsächlich Herrin der Lage. Trotz der Übelkeit, die immer wieder in ihrer Kehle aufstieg, trotz ihres Entsetzens gelang es ihr, unterstützt von einigen Dienerinnen, Jamie die Kleider auszuziehen, die Wunden zu waschen und zu verbinden. Die Pfeile waren bereits fachmännisch entfernt worden. Beim Anblick der einen Wunde fragte sich Sheena, warum Jamie noch lebte. Hatte die Pfeilspitze eine Rippe gestreift? Offensichtlich. Sie hatte das Herz nur um Haaresbreite verfehlt.
Er atmete immer noch, lebte immer noch - gerade noch... Die beiden anderen Wunden befanden sich über Jamies Hüften, wo ihn der zweite Pfeil durchbohrt hatte.
Daphne kehrte zurück. Da die Schloss herrin ihre Fragen nicht beantwortete und da es nichts für sie zu tun gab, ging sie bald wieder und scheuchte auch die Dienerinnen hinaus.
Allein mit Jamie, legte sich Sheena neben ihn, ganz vorsichtig, damit sie das Bett nicht bewegte. Sie betrachtete sein Gesicht und strich behutsam über seine heiße Stirn. Seine Augen blieben geschlossen, sein Atem ging stoßweise. Sie berührte seine Lippen mit einer Fingerspitze, dann legte sie ihre Wange an seine Schulter. Von Gefühlen überwältigt, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
»Du wirst nicht sterben, MacKinnion. Hörst du mich?« Sie kniff ihn in den Arm und war plötzlich wütend, weil er ihr solche Angst machte. »Hörst du, Jamie? Du bist mein Mann. Und - ich brauche dich!« Wie von selbst rangen sich die Worte aus ihrer Kehle, und sie stieß schluchzend hervor: »Ich liebe dich, Jamie! Du darfst nicht sterben - du darfst nicht...«
Erst viele Stunden später weinte sie sich in den Schlaf.
Im Morgengrauen saß sie auf einem Stuhl neben dem Bett und beobachtete Jamie. Von der glühenden Hitze seines Körpers war sie bald wieder erwacht. Während der restlichen Nacht hatte sie ihn mehrmals mit Quellwasser gewaschen. Nun fühlte er sich etwas kühler an.
»Du brauchst ihn nicht zu bemitleiden.«
Sheena drehte sich verblüfft um. Lydia war lautlos eingetreten und stand am Fußende des Bettes, in ihrem Nachthemd, über das sie einen wollenen Umhang geworfen hatte. Sie sah erschreckend aus mit ihren dunkel umschatteten Augen und dem ungekämmten Haar. Tante Lydia, die sonst immer so großen Wert auf ihr Äußeres legte...
Ohne Sheena anzuschauen, wiederholte sie: »Du brauchst ihn nicht zu bemitleiden. Das verdient er nicht.« »Aber - ich bemitleide ihn doch gar nicht«, stammelte die junge Schloss herrin verwirrt.
»Gut. Er hat es nämlich selbst getan.«
»Was?«
»Er hat sich selber umgebracht.«
»Wer?« rief Sheena, von plötzlichem Grauen erfaßt.
Lydia wies mit einem anklagenden Zeigefinger auf Jamie. »Mein Vater!«
»Was hast du denn?« fragte Sheena mit scharfer Stimme. »Kennst du deinen Neffen nicht mehr?«
»Neffen? Ich habe keinen Neffen. Mein Bruder hat keine Söhne. Vater würde ihn verprügeln, wenn es so wäre, denn dazu ist Robbi noch viel zu jung.« Lydia runzelte unsicher die Stirn. »Aber - Vater kann ich nicht mehr verprügeln. Er ist doch tot, oder? Ist Vater denn nicht tot?«
O Gott...
»Wie alt bist du, Lydia?«
»Acht«, antwortete die alte Frau, die Augen immer noch unverwandt auf Jamie gerichtet.
Sheena umklammerte die Armstützen ihres Stuhls. Träumte oder wachte sie? Andererseits - Jamie hatte ihr erzählt, Lydia wäre nicht mehr ganz richtig im Kopf, seit sie als Kind Niall Fergussons Mord an ihren Eltern mit angesehen hätte.
»Warst du dabei, als dein Vater starb, Lydia?« fragte sie sanft und vorsichtig. »Erinnerst du dich daran?«
»Wie könnte ich das vergessen? Er hätte es nicht tun dürfen. Und Fergusson hätte nicht kommen sollen. Er war ein Narr, wenn
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